Filmarchiv | FONTANES WANDERUNGEN: Havelland
FONTANES WANDERUNGEN: Havelland
Regie: Bernhard Sallmann
Der Abschluss der Fontane Quadrologie auf DVD. Mit HAVELLAND FONTANE schließt Bernhard Sallmann seine 2016 begonnene vierteilige Serie zu Theodor Fontanes (1819-1898) Reisereportagen “Wanderungen durch die Mark Brandenburg” ab.
Während die ersten drei Filme zum ODER-, RHIN- und SPREELAND Erkundungen des ländlichen Raums sind, ist in HAVELLAND auch die Verschmelzung einer Flusslandschaft mit dem Großraum Berlin-Potsdam ein zentrales Thema. Fontane legt die Grundlagen der Entstehung der Mark frei und schildert das Ringen der naturreligiösen wendischen Kultur mit der aus dem Westen andrängenden christlichen im 12. Jahrhundert. Er schildert an vielen Beispielen die Austauschverhältnisse der Mark mit der rasch wachsenden Großstadt: Orte industrieller (Ziegelbrennen in Glindow) und landwirtschaftlicher Produktion (Obstanbau in Werder) werden geschildert und in der präzis kadrierten Filmfotografie mit ihrer heutigen Gestalt konfrontiert.
In den gemäldehaften und lang verweilenden Tableaus entsteht ein Resonanzraum, der Zeiten, Orte und verblüffende Geschichten amalgamiert.
HAVELLAND. FONTANE
von Sebastian Markt
HIMMEL. ZEIT
Das erste Bild scheint ohne Zeit, ohne Verweis auf eine Geschichte. Ein Blick in einen lichten Himmel, vor dem sich eine Birke im Wind bewegt. Es ist Zeit da, sich in dem Bild zu verlieren, in das sanfte Schwingen der Äste, in das fast sublime Licht, das durch die vorüberziehenden Wolken scheint. Mit dem Andauern des Bildes wird im Rauschen der Natur noch eine Geräuschwelt vernehmbar, die einen spezifischeren Bezug von Ort und Zeit nahe legt, ein Rauschen, das technischer klingt, nach Verkehr, und schließlich eine distinkte Quelle vernehmen lässt, die ein Bild später auch noch visuell zuordenbar wird: Ein Hubschrauber, der den nachmittäglichen Himmel und die dazugehörige Stille durchschneidet und das unbestimmte Bild fokussiert auf eine Gegenwart, durch die zugleich in eine Vergangenheit geblickt wird. Denn in der Zwischenzeit setzt eine Erzählung ein, die eine Geschichte ausbreitet; „Die Wenden in der Mark“ beginnt sie und handelt sowohl von der slawischen Siedlungsvorgeschichte der Mark Brandenburg, bevor sie als solche konstituiert war, als auch von der germanischen Eroberung und dem vermeintlichen Ende der wendischen Einflüsse, was aber im gleichen Atemzug wieder verkompliziert wird. Das alles entfaltet sich in einer trügerischen Schlichtheit, die die Komplexität ihrer Bezüge nicht ausstellt.
Das Bild ist das erste in Havelland. Fontane, mit dem Bernhard Sallmanns vierteilige Filmwerdung von Theodor Fontanes Brandenburgischen Wanderungen zu einem Abschluss kommt. Wie der Splitter eines Hologramms enthält es als Teil ein ganzes Bild, von einem unerhörten und ungesehenen Herangehen an einen Text und eine Landschaft, und ein Verhältnis, in das Beide gesetzt werden.
BILD. STIMME
Fontanes Stimme ist wie in den vorgehenden Teilen Judica Albrechts Stimme. Auch ihre vokale Darstellung eine Übertragung: Gegenwart, die aus einer Vergangenheit kommt und die Zeiten überbrückt. Eine Präsenz, die noch Abwesendes mitklingen lässt, nicht als Gespenst, sondern als Lesart. Vielfältig sind die Formen, in denen Bild und Stimme darüber zusammenfinden oder in Parallelität bleiben. Momente, in denen auch der Blick ins 19. Jahrhundert gerichtet scheint, aus dem aus dem Off erzählt wird, ohne Anzeichen einer Zwischenzeit, unverstellte Gegenwart, die mit Schilderungen kontrastiert, die als Vorgeschichte verstanden werden, Zeitschichten, von denen der Text allein nicht weiß, aber der Film. Einklang von geschilderten und gezeigten Orten und Vielklang, aus dem ein Drittes entsteht. Die eigensinnige Konstruktion eines filmischen Raumes, der durch die Zeiten reicht, gibt Anlass zu einer unnachahmlichen Seherfahrung: ein konzentriertes und dabei nicht mußeloses Mäandern durch die Geschichte einer Kulturlandschaft, das sich auch auf die Zeiten erstreckt, die der Film zwischen Fontanes Gegenwart und unserer umklammert.
ERZÄHLEN. GESCHICHTE
Wie die Erzählungen der drei vorhergehenden Filme, so offenbart sich Fontanes Werk in Sallmanns Montage und Übertragung als eine vielgestaltige Textlandschaft von eigensinniger Modernität, hier: Eine – man würde heute vielleicht sagen – Dekonstruktion der vermeintlichen Überlegenheit Germanischer Kultur gegenüber den Wenden steht neben der detaillierten Schilderung des handwerklichen Vorgangs des Schwänerupfens, die Legende einer Klostergründung neben der statistischen „Romantik“ (Fontanes Wort) der Werderaner Obstwirtschaft. Wie der Film mit diesen Erzählungen verfährt, ist Teil seiner eigenen Poetik: Eine Inszenierung der Übergange von Erörtern und Erzählen, ein über die einzelnen Filme wechselndes Hinterlassen roter Fäden, Akzentuierungen, das im abschließenden Teil nochmal einen großen historischen Bogen, freilich nicht ohne sinnfällig Abschweifungen, schlägt. Ein Kino, dass seine ganz eigenen Mittel nützt, um eine Erfahrbarkeit von Geschichte zu schaffen, als etwas, das zwischen den Erzählungen und den Bildern im Sehen und Hören eröffnet.
LANDSCHAFT. WANDERN
Ein peripatetisches Filmdenken breitet sich in den Arbeiten aus, produktionsästhetisch, in Sallmanns ruhiger Annäherung an Text und Landschaft in minimaler technischer Ausstattung auf dem Fahrrad, statt im Auto mit fixen Drehplänen, und in der Form, die die Montage findet, um Bilder und Texte zu einer audiovisuellen Landschaft zu fügen: ein vieldimensionaler Kinoraum, der die Erfahrung des Durchwanderns aufnimmt und zugleich in eine zeitliche Dimension überträgt.
Eine Zeit, die von den Zeitläufen historischer Prozesse auf die Zeit des Zuschauer*innenraumes gewendet nicht zuletzt auch ein Geschenk ans Publikum ist: als Freiheit, um sich in dem Raum, den der Film bietet und lässt, umherstreifend zu bewegen.
EKSTASE. STEINE
Das letzte Bild hält lange an. Zwei Einstellungen, die zusammen fast 15 Minuten andauern, zeigen eine Schleuse, in der links ein Schleppkahn, rechts zwei Sportboote auf ihre Durchschleusung warten, während sich am Horizont eine abschiedsrote Sonne überm Havelufer versenkt.
Ekstase heißt der Kahn, der sich dann durch das geöffnete Schleusentor ins offene Gewässer schiebt, was er geladen hat, vermag man aus dem Bild nicht abzulesen, es werden eher nicht die Steine sein, von denen der Text im diesem Moment spricht, von Ziegeln und denen, die sie streichen und brennen, von der Hierarchie der Arbeiter und der um sich greifenden Proletarisierung, die das sich industrialisierende Berlin, das die Tetralogie jetzt gute sechs Stunden und ein paar Jahrhunderte lang umschritten hat und manchmal tangiert hat, befeuert. Ein Bild, das noch einmal die Pole heraufbeschwört, zwischen denen sich Film, Text und Bild bewegen: von der konkreten Zeit des Kinoraums und der abstrakten von Geschichte, von Landschaft und den Gesellschaften, die sie überschreiben, Gegenwart und Abwesenheit. Von Übereinstimmung und Differenz. Ein nüchternes Bild, das zugleich voller Affekte ist. Ein Abschiedsbild, das zugleich ein Aufbruchsbild ist. Ein Bild, das verlischt und bleibt, ein Filmzyklus, der zu Ende geht und bleiben wird.
Bernhard Sallmann
Einige Bemerkungen zu meinen Filmen „Oderland Fontane“, „Rhinland Fontane“, Spreeland Fontane“ und Havelland Fontane“
Theodor Fontane (1819-1898) schrieb vier Bücher „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“. Einzelne Feuilletons zu Orten, Personen und Geschichtsetappen veröffentlichte er vorab in Zeitungen, Almanachen oder Jahrbüchern. Er hat sie auch stets umgearbeitet, Neuigkeiten eingepflegt und anderes ausgeschieden. Ein mobiler Textkorpus, wuchernd, riesig! Ein Band umfasst jeweils etwa 500 Seiten. Davon scheinen in meinen Filmen jeweils etwa 20-25 Seiten auf. 1892 sind die Arbeiten in einer Wohlfeilen Ausgabe (Volksausgabe) letztmalig zu Fontanes Lebzeiten in seinem Editionsplan erschienen. Im Kern habe ich in meinem Filmprojekt mit dieser Ausgabe gearbeitet. Hinzugezogen habe ich die Anmerkungsapparate der DDR-Edition, der BRD-Edition und der gesamtdeutschen Edition. Auch Fontane ist ein Produkt des Kalten Kriegs, die DDR hatte die bessere Quellenlage.
Das fünfte Buch „Fünf Schlösser“ ist editionsgeschichtlich wie ein Kuckucksei ins Nest gefügt worden. Es hat einen anderen Charakter als die anderen vier Bücher. Gleichwohl ich zu Anfang meines Filmprojekts noch die Möglichkeit erörterte, die einzelnen Schlösser bei Interesse den einzelnen Filmen beizugeben, so habe ich im Laufe der Arbeit an den Filmen ein immer stärker werdenden Bewusstsein entwickelt, es füge sich schlecht.
Fontane eröffnet mit den Landschaften nördlich von Berlin sein Quartett: „Die Grafschaft Ruppin“(Erstausgabe: 1861). Es folgen „Das Oderland“(1863) östlich von Berlin und „Havelland“(1872) westlich von Berlin. Den Abschluss bildet „Spreeland“(1882) südlich von Berlin. Es fällt auf, dass Fontane die beiden ersten Bände mit einem bestimmten Artikel versieht, davon jedoch im dritten und vierten Buch Abstand nimmt. Er scheint sich einer konkreten Geographie nicht länger unterordnen zu wollen. Oder seiner realen Geographie nicht länger vertrauen zu wollen. Geographie bei Fontane ist sehr real in vielen Schilderungen, sie ordnet sich aber auch spekulativ seinem Editionsplan unter.
In meiner Herzensgeographie, die Ländergrenzen zu minimieren versucht, war Fontanes „Das Oderland“ meine erste Wahl. Was zu Fontanes Zeiten in Teilen die Neumark, jene Regionen östlich der Oder war, ist heute ein anderes Land – Polen – mit einer anderen Sprache. Andere Klänge, Gerüche, Architekturen.
Hier zeigt sich schon im Titel „Oderland Fontane“(2016) mein Manöver. Ich war auch in einem Zeifel: Sollte der Film „Oder/Odraland Fontane“ heißen? Ich wollte den Autor nicht zuerst nennen, ich wollte die Landschaft nennen, dann den Autor. Denn der ragt ja ohnedies so mächtig in den Prozess der Signifizierung der märkischen Landschaft hinein. Viel mehr als der Wanderer August Trinius, ein Zeitgenosse Fontanes, der drei Bände „Märkische Streifereien“ vorlegte. Fontanes große Bekanntheit, Trinius´ große Unbekanntheit. Trinius als tatsächlich wandernder Schatten des kutschereisenden Fontane. Fontane im Schatten der Quellen – denn er zitiert viel aus Memoirenliteraturen und Kirchenbüchern, er hört zu, auch der plattdeutschen Sprache lauscht er nach. Fontanes Bescheidenheit ist Teil seiner Größe. Er verleugnet die Quellen auch nie. Aber auch spreizt sich seine Sprache auf zu einem pfauengefiederartigen Rad, das glänzt und lockt. Ich als fahrradreisender Filmemacher. Bepackt wie ein Esel. Tourist? Als Arrieregarde und Avantgarde zugleich. Nach den Texten und vor den Wahrnehmungen Fontanes im 19. Jahrhundert. Kreise ziehend durch Texte und Landschaften. Schnitte, fahrende Schnitte in die Landschaft eintragend. Die Frage trieb mich um: Spricht das 19. Jahrhundert mit unserer Gegenwart und wenn: Wie kann das filmischen Ausdruck finden.
Das Bild der Waage ist naheliegend, Fontane war Apotheker. Gleichwohl er den Beruf hasste und früh aufgab zugunsten einer schriftstellerischen und journalistischen Karriere, ist der Modus des Abwägens, des in der Waage Haltens, ein zentrales Element seiner Poetologie. Ich wollte nicht Fontanes Wahrnehmung der Landschaften verfilmen. Ich wollte – außer seinen Texten – kein weiteres Archivmaterial verwenden. Vielmehr wollte ich die Landschaften wie ich sie heute wahrnehme in ein Verhältnis zu Fontanes Texten setzen. Keine Historisierung anstreben. Ein einziges Mal in den vier Filmen habe ich ein Textstück ausgewählt, das nicht aus den „Wanderungen“ ist, sondern dem autobiographischen Roman „Meine Kinderjahre“ entstammt. Im Kapitel „Vierzig Jahre später“ – ein Fremdkörper im Text – schildert Fontane die letzte Begegnung mit seinem Vater, der im Alter, geschieden, von Spiel- und Trunksucht gezeichnet, sich in eine Schifferkolonie in das Oderbruch zurückzog.
Fontanes „Das Oderland“ erstreckt sich von Frankfurt bis Schwedt (Süd-Nord) und von der Oderbruchkante bis über die Oder hinaus (West-Ost). Daran hielt ich mich fahrend, reisend, rasend (so schnell es eben ging), die asphaltierte Dammkrone dahinhuschend, durch Bruchwege hoppelnd, unter Bäumen lagernd. Immer im Warten auf Licht und Wind. Das Oderbruch war großen Zerstörungen zum Ende des 2. Weltkriegs ausgesetzt, es fehlt ihm so vieles, was Fontane sehen konnte. Wo sind die Brücken, die Furten, die Fähren.
Der erste Film war der Testfall, ob es überhaupt möglich wäre: Die sehr langen statischen Einstellungen mit den sehr langen feuilletonistischen Textstücken – in der Voice Over Judica Albrechts traumhaft sicher und messerscharf rezitiert – zu kombinieren. „Mastershots“. Das sehr gewagte Konzept, von jedem Ort fast immer nur ein einziges Ton-Bild zu erstellen. Keine Auflösungen der Motive. „Oderland Fontane“ habe ich mit einer HDV-Kamera gedreht, die ich einst dem lieben und geschätzten Kollegen Johannes Holzhausen für 300 Euro abgekauft habe. Eine Kamera, die nicht imstande ist, ein „vollwertiges“ (aber was heißt das?) HD-Bild zu erstellen. Das Bild ist „mangelhaft“, brüchig. Wie ein verwischtes Aquarell. Schlechte Farbe auf schlechtes Papier aufgetragen. Ein Videoimpressionismus. Flächig, klumpig. Das Material war schwer zu behandeln in der sog. Postproduction, im Colorgrading. Wie ein altersschwacher Körper mit faltiger Haut. In dem scheinbaren Mangel jedoch berührt mich der Film sehr, in seinem Versagen gegenüber den Aufmärschen der Pixelarmeen. In seiner Dunkelheit. Der Chip leistet eben nicht mehr. Es gibt keine Musik in den Filmen. Und doch sind sie vom Geist der Musik beseelt. Mein Oderland-Film wie eine getragene Symphonie eines/r unbekannten KomponistIn. Die Oder ist der mächtigste Fluss in meinem Filmquartett, er fließt letztlich entschieden dem Meer zu. Wo das Süßwasser sich mit dem sauren Wasser mischt.
Fontanes erstes Buch „Die Grafschaft Ruppin“ wurde das Material für meinen zweiten Film „Rhinland Fontane“(2017). Fontane benennt drei seiner Bücher bereits nach Flüssen. Die Flüsse sind seine Navigationssysteme. Es war somit naheliegend, für „Die Grafschaft Ruppin“ ebenfalls einen Flussnamen zu finden, zumal der Fontanetitel sich mit einer heutigen politischen Situation inkompatibel zeigt. Der Rhin ist der tückischte der märkischen Flüsse gewesen, zumal er manchmal sich bachartig, rinnsalartig verjüngt, manchmal von Wiesen absorbiert wird und an anderer Stelle wieder zutage tritt. Der Konkurrenzfluss in der Namensgebung wäre die Havel gewesen, die ja von Norden her kommt und später Fontanes drittem Buch dem Titel gibt. Er ist vom Geist der knappen Musik inspiriert: Webern, Kurtag. Demnach der kürzeste Film. Aphoristisch, herb, spröd. Er benennt den Wert des „Kleinen“, das koexistent neben dem „Großen“ bestehen kann, seiner Marginalität jedoch bewusst ist. Demnach ist dieser Film manchmal im Muster von „weit“ und „nah“ gedreht. In einer Ununterscheidbarkeit, ob das Weite das „Kleine“ oder „Große“ ist. Wiederum ist die Grenzfrage interessant gewesen. Fontane schildert die Schmuggler, die zwischen Brandenburg und Mecklenburg sich bewegen. Er schildert desertierende Soldaten. Heute eine ähnlich verlaufende Grenze, mit einem gewaltigen Index jedoch: Wo Fontane vor vielen Jahren von Preussen auf Mecklenburg blicken konnte, symbolisch Heinrich Schliemann in Fürstenberg grüßend, da ist heute die KZ-Gedenkstätte Ravensbrück. Fontanes Geographie folgend zwang ich mich zu diesem Ort des Grauens. Ich umschlich ihn und erst am letzten Drehtag filmte ich. Ich überschritt auch die Grenze zum Mecklenburgischen, um einer Trasse zu folgen: Ich folgte wie ein männliches Groupie dem Beerdigungstross der sehr jung verstorbenen Königin Luise („Königin der Herzen“ in der preussischen Typologie, Napoleon stolz trotzend selbst in der Niederlage) von Hohenzieritz über Dannenwalde nach Gransee. Wo die Grenze zwischen Mecklenburg-Preussen lag, erinnert heute ein Gedenkstein. Dass Preussenromantik nicht nur inadäquat, sondern sogar unmöglich ist, beweist dieser Ort, der von Verkehr umtost ist. Bundesstrasse 102, der/die Radfahrende würde sofort zu Tode kommen, wäre er/sie nicht durch Radwege abgetrennt vom Toben der Rasenden, auf der einen Seite, die Bahntrassse auf der anderen Seite. „Erbarme dich!“ Das an den Rand gedrängte Preußen. Überhaupt bei Fontane fällt oft auf, dass er Herrschaftsgeschichte als Debilitätsgeschichte erzählt. Verdrängte Homosexuelle, ins Abseits Geschobene, zu Bestrafende, Fetischisten, Verhöhnte.
Erbarmen mit der Landschaft empfand ich am stärksten im „Spreeland Fontane“(2018) Film. Fontanes Ideen-Skizzen zum Buch reichen bis nach Cottbus, der Maler Blechen ist eine wichtige Figur für ihn. Im fertigen Buch reicht Fontanes Radius jedoch gerade bis in den Spreewald und nicht weiter. Mir war jedoch auch wichtig die erneute Begegnung mit den Bergbaufolgelandschaften. Ich hatte da noch eine Rechnung offen, „Träume der Lausitz“(2009). Gleich unterhalb des Spreewaldes. Wo die Natur ihres Schatzes beraubt wurde, ausgekohlt daliegt, begleitet von totem Wasser, saurem Wasser, in dem kein Lebewesen sich aufhalten kann. Die innere Musik, die den Film begleitet hat, war die „Matthäuspassion“ von Bach. „Erbarme dich!“ Und die Bemerkungen von Hermann Scherchen in der Generalprobe zu Beethovens 5. Symphonie 1965 in Lugano. Ich verstehe kaum was er in italienischer Sprache zu den MusikerInnen sagt, aber es ist das Tempo seines Sprechens, seine Entschiedenheit, seine Präzision, den Weg durch die Partitur zu suchen und zu finden.
Ein Film des zwillinghaften Wesens, da es sich um zwei Flüsse handelt, an denen Fontane navigiert. Die Dahme, die sich in Köpenick mit der Spree verbindet. Und, für mich von rasendem Interesse: Die Dahme zu Fontanes Zeiten wurde die Wendische Spree genannt. Die Hinwendung Fontanes zur wendischen Kultur ist enorm und nicht vereinbar mit den ethnologischen Valenzen der märkischen Welt. Fontane hat ein fotographisches Gedächtnis. Er beschreibt so präzis wie ein optischer Aufnahmeapparat.
Ich habe mich in der Auswahl der Textstellen aus den Büchern stark für die Darstellung der Tierwelten interessiert. Sie sind es, die im Prozess der Zivilisierung den Menschen weichen müssen. Weichen durch ausrotten. Wie schön daher, dass in der Darstellung einer königlichen Sauenhatz der König bei einer infantilen Mutprobe vom Keiler fast zu Tode gebracht wurde. „Blutend brachte man ihn nach Köpenick.“
„Havelland Fontane“ ist der vierte und letzte Film meiner Serie. Der bogenförmige Fluss, bei Fontane bei Oranienburg einsetzend, Berlin und Potsdam durchmessend und hinter Brandenburg Stadt wieder nach Norden fließend. Halfpipe. Er ist eine wehmütige Abschiedsmelodie. Eine nicht enden wollende Musik. Demnach der mit Abstand längste Film. Diesmal ist das Antlitz des schweißtriefenden steinern-wächsernen Gesichts Hermann Scherchens von zentraler Bedeutung. Sein letztes Dirigat, „Die Kunst der Fuge“, mit einem Ensemble in einer Kirche am Stadtrand von Paris eingespielt. Von einer Fernsehanstalt begleitet. So todesnah, dass er nicht aufhören will die Variationen auszukosten. Schwebend. Dem Irdischen entrückt. Ich konnte und wollte nicht aufhören mich in der Landschaft zu bewegen, zu suchen, mich zu ergehen. Einzelne Einstellungen habe ich 40 Minuten laufen lassen, um den Bewegungen der Landschaft nachzuspüren.
„Havelland“ an das Ende meines Zyklus zu setzen, bedeutet auch einen unüberhörbaren Paukenschlag zu inszenieren. Ein ländliches Proletariat mit Wanderarbeitern ist entstanden. Die Großstadt Berlin ist am Entstehen, ein neuer Energiestrom bildet sich.
Fontanes „Wanderungen“-Bücher ignorieren brüsk die Stadt, er ergeht sich in den Landschaften fernab, aber in „Havelland“ beginnt es zu verschmelzen. Spätestens in meiner Diagnose von Landschaft und Arbeitswelt.
Fontane arbeitet mit Übertreibungen, um die Landschaften um Berlin zu etablieren. Ich übertreibe, um mein Projekt darzustellen: Es ist eine märkische Anakonda, eine Riesenschlange. Die Grenzen zwischen den Filmen sind gesetzt, doch Neuverknotungen sind denkbar. Aus kleineren Schlangen eine große machen. Sowohl der Text Fontanes ist eine Riesenschlange, als auch die Flüsse. Ein einziges Geschlinge. Oft mehr Sumpf und See als Fluss. Die Filme sind neu zu verketten. Es ist anzuraten, sie beispielsweise in der Reihenfolge des Erscheinens von Fontanes Büchern zu sehen. Oder in der Reihenfolge ihrer Längen: Rhinland – Oderland – Spreeland – Havelland. Oder in alphabetischer Reihenfolge. Sie in Paaren zeigen.
Der Filmemacher versteht sich auch als märkische Anakonda, als Getier im Sumpf auf Bild- und Tonbeute lauernd. Montage als Verdauung und muskulärer Umschlingung der Beute.
Die Filme sind auch eine Auseinandersetzung mit den Gemäldegalerien. „Havelland Fontane“ bezeichnet sich als Fete galante, ein von Watteau entwickeltes Bildgenre des Rokoko. Und ganz profan: Viele Watteaus hängen in Schloss Charlottenburg und Schloss Sans Souci und in der Berliner Gemäldegalerie im Havelland. Der flötenspielende König sammelte ihn. Auf die von den MeisterInnen ersten, zweiten oder dritten Ranges – das kann sich ja auch stets ändern – erarbeiteten Proportionen, Formen und Kadragen ist stets Verlass. 16:9 ist wahrscheinlich nicht das glücklichste Format in der Filmgeschichte. Es ging oft bei meiner Bildsuche um ein anamorphotisches Verfahren, die Kunstgeschichte in die Proportionen der Filmtechnik einzupassen. Die Bewegung ist für mich das Erregende und stellen die Distanznahme zur Bildergalerie statt. Die Filmbilder, so reglos sie zu sein scheinen oftfach, sind von fürchterlichen Spannungen durchzogen. Ein Blatt mehr, das vom Wind bewegt wird, könnte den Rahmen zum Zerbersten bringen.
Eine Unruhe treibt mich radfahrend durch die Landschaften wie ein Späher, lauschend, guckend. Eine fieberhafte Suche nach dem idealen Klangbild eines Ortes. Ich drehe immer mit Originalton oder – um es einmal umzudrehen – Originalbild.
Zur Fete galante: Das an der Grenze zum Frivolen Stehende bei Watteau oder Pesne ist in meinen Filmen nur für´s erste sublimiert. Es tritt überdeutlich zutage in den vielfältigen Kopulationen von Licht und Sand/Schlamm/Baum/Ziegel. Lichtspiele eben. Töne als Hauch, ein zartestes Blasen. Ein Schnauben der Nüstern. Ein Zerreißen der Stille, ein Verklingen. Die Diminuendi Scherchens. Die vielfachen pianos Nonos.
- Extras
Trailer zu allen vier Fontane Filmen!
- Credits
-
Kamera: Bernhard Sallmann
Regie: Bernhard Sallmann
Produktionsland: D
Produktionsjahr: 2019
- Pressestimmen
“Ich bin die Mark durchzogen und habe sie reicher gefunden, als ich zu hoffen gewagt hatte.” Theodor Fontane
“Der Text ist die Landschaft ist der Film: Die Kunst von Sallmanns Fotografie zeigt sich vor allem darin, dass er nicht einfach perfekte, fast schon gemäldehafte Kompositionen findet, sondern dass er immer wieder Motive entdeckt, die auf mehrere Zeiten gleichzeitig verweisen. Er hat nahezu im Alleingang ein bedeutendes Werk geschaffen, mit dem das Informationszeitalter eine komplexe Lektüre perfekt aufbereitet bekommt – in der Landschaft lesen wir die Zeit.” Frankfurter Allgemeine Zeitung
“Ein starker Film: „Havelland” kombiniert Bilder heutiger Natur und Industrielandschaften mit Texten von 1889. Sallmann bebildert nicht, er schafft eigenwillige Assoziationsräume. Die Gegenwart überschreibt die Vergangenheit. Nichts bleibt, wie es war." Berliner Zeitung
“Der Text liegt über den sorgfältig fotografierten und gut ausgewählten Bildausschnitten. Zu sehen ist selbstverständlich viel Havel, also viel Wsser, und was damit zusammenhängt …” Kreuzer Leipzig
“Innerhalb der langen Einstellungen ist selbst viel in Bewegung. Lichtreflexionen verdichten und verschieben sich, erzeugen ein optisches Gefunkel auf der Wasseroberfläche oder farbige Flecken auf der Kameralinse. Durch Statik und Länge der Einstellungen werden unterschiedliche Gestimmtheiten der Landschaft, der Jahreszeit und des Wetters wahrnehmbar.
Sallmann nutzt den Ton. Nicht um mit den Bildern eine deckungsgleiche Verbindung herzustellen, sondern um die Rahmung der Landschaftstotalen zu überschreiten, um den Schein des bloß Naturhaften und eine historische Kartografie der Landschaft zu dechiffrieren.” Perlentaucher“Was für eine schöne Idee, und was für eine kongeniale Umsetzung. Wie Gemälde fügen sich die Filmbilder. Sallmann bietet völlig neue Sichtweisen und ungewohnte Blickwinkel auf die Mark. Seine Aufnahmen sprechen für sich, und doch verlässt er sich nicht darauf. Die alten Texte und die neuen Filmaufnahmen bieten im Zusammenschluss einen ganz besonderen Reiz und eignen sich hervorragend zur Entschleunigung. Es handelt sich dabei nicht um eine Reisedokumentation, sondern um ein Kunstwerk. Der vierte und letzte Film „Havelland“ liegt nun vor – pünktlich zum Abschluss des Fontane-Jahres.” Nitro
“Havelland Fontane ist durchaus romantisch. Das liegt schon in den stilistischen Traditionen, die sich hier begegnen: Zum einen eben Fontane mit seinen ausgedehnten, naturverliebten Beschreibungen. Zum anderen aber auch Sallmanns Bilder: In ihrem Aufbau sind sie Reminiszenzen an Caspar David Friedrich – durch den Horizont zweigeteilt; in der unteren Hälfte weite Landschaft, in der oberen Hälfte stets graue Wolkenfront. Romantisierend aber sind sie nicht.” critic.de
“Eine Inszenierung der Übergange von Erörtern und Erzählen, ein über die einzelnen Filme wechselndes Hinterlassen roter Fäden, Akzentuierungen, das im abschließenden Teil nochmal einen großen historischen Bogen, freilich nicht ohne sinnfällig Abschweifungen, schlägt. Ein Kino, dass seine ganz eigenen Mittel nützt, um eine Erfahrbarkeit von Geschichte zu schaffen, als etwas, das zwischen den Erzählungen und den Bildern im Sehen und Hören eröffnet.” Sebastian Markt
“Nach ODERLAND, RHINLAND und SPREELAND erkundet der vierte und letzte Teil der Wanderungen HAVELLAND nun „die Verschmelzung einer Flusslandschaft mit dem Großraum Berlin-Potsdam“. Indie Kino
nicht mehr lieferbar
Best. Nr.: 4073
ISBN: 978-3-8488-4073-1
EAN: 978-3-8488-4073-1
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