Film | DIE ERBINNEN
DIE ERBINNEN
Regie: Marcelo Martinessi
Chela und Chiquita sind schon lange ein Paar, über die Jahre sind sie in ihren Rollen innerhalb der Beziehung erstarrt. Während die extrovertierte Chiquita das gemeinsame Leben organisiert, verbringt Chela die Tage lieber bei gedämpftem Licht hinter ihrer Staffelei. Die finanzielle Lage des Paares ist nicht rosig und zwingt die beiden dazu, Teile ihres geerbten Mobiliars zu verkaufen – selbst, wenn es sich um Erinnerungsstücke handelt. Als Chiquita wegen Überschuldung ins Gefängnis kommt, ist Chela plötzlich auf sich allein gestellt…
Sie kommt auf die Idee, mit ihrem alten Mercedes einen Taxi-Service für wohlhabende ältere Damen aus der Nachbarschaft anzubieten. Beim Chauffieren lernt sie die junge, lebensfrohe Angy kennen und ist fasziniert von ihr. Die Begegnung lockt Chela aus ihrer Passivität und lässt sie ihre eigenen Sehnsüchte neu entdecken…
DIE ERBINNEN erzählt die Geschichte zweier Frauen um die 60 Jahre, die als Paar in einem bürgerlichen Viertel der paraguayischen Hauptstadt Asunción leben. Als Chiquita auf Grund der gemeinsam angehäuften Schulden ins Gefängnis muss, beginnt für Chela ein zaghafter Befreiungsprozess. Das private Drama spiegelt die gesellschaftliche Entwicklung, die Paraguay nach langen Jahren der Diktatur und der Absetzung der ersten demokratischen Regierung genommen hat und erzählt zugleich eine universelle Geschichte über Abhängigkeiten und einen späten Neuanfang.
BIOGRAFIE MARCELO MARTINESSI
Geboren 1973 in Asunción, Paraguay. Der Regisseur und Drehbuchautor studierte zunächst Kommunikationswissenschaft in seiner Heimatstadt und dann Film an der London Film School. Seine Kurzfilme, die sich mit Literatur und dem Thema Erinnerung beschäftigen, wurden auf der Berlinale, auf dem Kurzfilmfestival in Clermont-Ferrand und weiteren Festivals gezeigt. Von 2010 bis
zum Staatsstreich von 2012 war er Geschäftsführer des ersten öffentlichen Fernsehsenders in Paraguay. Seine Verarbeitung des folgenden politischen Chaos setzte er in dem Kurzfilm La Voz Perdida um, der 2016 als bester Kurzfilm auf dem Filmfestival in Venedig ausgezeichnet wurde.
Interview mit Marcelo Martinessi
In Ihren vorherigen Filmen haben Sie einige wenig bekannte historische Ereignisse in ihrem Heimatland Paraguay behandelt. Wie sind Sie auf die Geschichte mit Chiquita und Chela gekommen? Steht die Geschichten der Beiden in Verbindung mit einem bestimmten Aspekt der Geschichte Paraguays?
Es ist unmöglich, über das paraguayanische Kino zu sprechen, ohne sich die „Jahre der Finsternis“ bewusst zu machen, einige Jahrzehnte, in denen es unmöglich war, Filme zu machen. In den 1960er und 1970er Jahren, während der Rest Lateinamerikas seine eigenen Geschichten auf der Leinwand erzählte, blieb mein Land unsichtbar. Darum ist der Aufbau einer eigenen Cinematographie eine der Schlüsselaufgaben für meine Generation. Als ich die Geschichte von Chiquita und Chela schrieb, erkannte ich, dass ich versuchte, in einen Dialog zu treten mit dieser Epoche der Dunkelheit und mit einer Gesellschaft, die sich nicht verändern möchte, einer Gesellschaft, die sich verstecken möchte, sich an ihrem eigenen Schatten festklammern möchte.
Der letzte Staatsstreich im Jahr 2012 machte deutlich, dass es immer einen Flirt des kleinbürgerlichen Teils unserer Gesellschaft mit autoritären Regimen gab. Und ich spreche nicht nur von den starken Charakteren, die mit Stiefeln und Gewehren die Zeit bis in die 1980er hinein prägten. Die neuen „demokratischen“ Führer, die sich heute die Gewinne aus Drogenschmuggel und Korruption untereinander aufteilen, brauchen auch Komplizen in unserer Gesellschaft, um die selben Ängste und das selbe Schweigen aufbauen zu können. Ich persönlich bin an dem Alltagsleben außerhalb dieser Sphären der Macht interessiert, auch innerhalb der herrschenden Klasse. Es war unwichtig, DIE ERBINNEN an einem explizit benannten Zeitpunkt in unserer politischen Geschichte zu platzieren, denn das Gefühl, in einem riesigen Gefängnis zu leben, bleibt unverändert. Und in erster Linie ist DIE ERBINNEN ein Film über Gefangenschaft.
Können Sie uns mehr erzählen über das gesellschaftliche Setting des Films, die bürgerlichen Familien, aus denen beide Frauen stammen?
Das schlimmste an einem Regime, das gleichzeitig beschützt und unterdrückt, ist die Erschaffung von Individuen für die es unmöglich ist, seiner Logik zu entkommen. Paraguay ist weltweit eines der Länder mit der größten Ungleichheit und diese Frauen gehören zu dieser beschützten/privilegierten Elite, die sich über das Dach über ihrem Kopf und das Essen auf ihrem Teller keine Sorgen machen müssen. Aber die Geschichte nimmt Fahrt auf, als sie ihre Sicherheiten verlieren und keinen Weg finden, sich der neuen Realität anzupassen. Die Hauptfigur braucht weiterhin ihr teures Auto, ihre Dienerin, ihren kleinen Luxus. Und selbst, wenn das Auto alt und die Dienerin unerfahren ist, tut sie alles, um diesen Komfort zu bewahren. Deshalb verändert sie der alltägliche Vorgang, einen Job zu haben und Geld zu verdienen, so einschneidend. Plötzlich taucht ein Begehren auf, wie eine neue Landschaft, fast unbekannt, aber voller Möglichkeiten.
Was war Ihre Inspiration für den Film und hatten Sie künstlerische Einflüsse, die Ihr Filmemachen beeinflusst haben?
Ich wuchs in einer Welt auf, die von Frauen geprägt war: Mutter, Schwestern, Großmütter, Tanten, Nachbarinnen. Ich wollte mit meinem ersten Spielfilm in dieses weibliche Universum eintauchen, das mich noch mehr interessiert, seitdem ich begann, die Filme von Rainer Maria Fassbinder zu sehen.
Was den Versuch angeht, die paraguayanische Gesellschaft zu portraitieren, war der Schriftsteller Gabriel Casaccia vielleicht mein stärkster Einfluss. Sein erster Roman erschien in den 1950er Jahren, als unsere Literatur nur über Helden schrieb. Er hingegen nahm den paraguayanischen Figuren das
Prätentiöse und gaben ihnen im Gegenzug Menschlichkeit. Etwas Ähnliches passiert gerade mit paraguayanischen Frauen, durch die Konstruktion von Bildern, die sie zu Heldinnen während des Krieges machen, stark und unnachgiebig. Es ist sehr gefährlich, wenn das ihr einziger Platz in der Geschichte ist. Es ist eine Falle durch die versucht wird, ihre Rolle in der heutigen Gesellschaft zu formen. Ehrlich gesagt denke ich, dass viele Frauen solch eine Bürde nicht tragen möchten und nicht tragen sollten. Sie verdienen die Möglichkeit – wie sie selbstverständlich den Männern zugestanden wird – auch einmal unverantwortlich zu handeln.
- Inhaltsübersicht
Kapiteleinteilung
- Credits
-
Darsteller: Ana Brun, Margarita Irún, Ana Ivanova
Kamera: Luis Armando Arteaga
Regie: Marcelo Martinessi
Produktionsland: PAR/URUG/BRAS/D/F
Produktionsjahr: 2018
- Pressestimmen
“Berlinale-Hit! – Coming-of-Age-Geschichte einer 60-Jährigen: In “Die Erbinnen” erweisen sich Schicksalsschläge als unverhoffte Brücke in ein neues Leben." Der Spiegel
“Erzählt in unaufgeregten Bildern und immer nah an seinen Heldinnen von zwei alternden Frauen und der verfallenden Oberschicht im Land.” EPD Film
“In „Las Herederas“ entwickelt der Regisseur den verhaltenen Ausbruch Chelas aus den festgefahrenen Verhaltensmustern und Abhängigkeiten, die sie mit ihrer Partnerin verbindet. Überzeugend gelingt es dem Film, die individuelle Entwicklung seiner Figuren mit dem Verfall einer längst überholten gesellschaftlichen Ordnung in Südamerika zu verbinden.” TAZ
„Ein fein gearbeitetes, wundervoll umgesetztes Debüt, organisch und persönlich.“ Variety
„Mit Marcelo Martinessi hat die Filmwelt ein großes Talent gewonnen." Dirk Böhme, Kaput Magazin
„Martinessi kombiniert scharfsinnig Subtilität, Melancholie und satirische Beobachtung.“ **** Peter Bradshaw, The Guardian
“In Las herederas kann man miterleben, wie sich inmitten eingefahrener, zu Ritual und Routine gewordener Verhaltensweisen ein Horizont für Neues andeutet.” Artechock
“Ein Leben nimmt Fahrt auf!” Der Spiegel
- Auszeichnungen
Berlinale 2018 – Silberner Bär: beste Darstellerin
Berlinale 2018 – Silberner Bär: Alfred Bauer-Preis
Berlinale 2018 – FIPRESCI-Preis
Berlinale 2018 – Teddy Award der Leserjury von ‘Mannschaft’Sydney Film Festival 2018 – Bester Film
22. Lima Filmfestival Peru – Beste Darstellerin für Ana Brun, Bester Debüt-Film
14. Internationales Filmfestival von Santiago de Chile: Bester Regisseur für Marcelo Martinessi
Internationales Filmfestival Gramado (Brasilien): sechs Preise: „Bester internationaler Film“, „Bestes Drehbuch“, „Beste Regie“, „Beste Darstellerinnen“ für die drei Hauptdarstellerinnen, „Publikumspreis“, „Preis der Filmkritik“World Cinema Festival Amsterdam 2018: Bester Film
Filmfestival von Gramado – Bester lateinamerikanischer Film, Beste lateinamerikanische Regie, Beste lateinamerikanische Darstellerinnen (Ana Brun, Margarita Irún, Ana Ivanova), Bestes lateinamerikanisches Drehbuch, Publikumspreis – Bester lateinamerikanischer Film
Jeonju Film Festival – Bester Film
San Sebastián International Film Festival – Bester lateinamerikanischer Film
Transilvania International Film Festival – Bester Film
Best. Nr.: 7042
ISBN: 978-3-8488-7042-4
EAN: 978-3-8488-7042-4
FSK: 0
Originaltitel:
Las herederas
Länge: 95
Bild: PAL, Farbe, 16:9
Ton: Dolby Stereo
Sprache: Deutsche Fassung, spanische Fassung
Untertitel: span. OmU-Fassung
Regionalcode: codefree
Label: absolut MEDIEN
Reihe: GRANDFILM
Rubrik: Spielfilm
Weitere Titel aus
unserem Programm
Der Neue Mensch (Sonderausgabe)
LA FLOR
Mariano Llinás