Filmarchiv | Zone M
Zone M
Regie: Eduard Schreiber
In dem Uraltdorf Moljobka, zweieinhalbtausend Kilometer östlich von Moskau, an der Grenze zu Asien, kämpft jeder um das Überleben. Das Dorf mit seinen 465 Einwohnern liegt am Rande einer Anomalie-Zone, der ZONE M, in der man seltsame Erscheinungen beobachten kann.Die einen werden von der Landung von Außerirdischen in Atem gehalten. Für andere wiederum ist das purer Unsinn. Doch im Dorf beschäftigt es jeden, sogar die Kinder. Nachtwärter Sergej kann die Schläge der ZONE auf seinem Kopf nur mit Wodka aushalten. Aljoscha, der Traktorist, erzählt mit abscheulichsten Flüchen von seinen Beobachtungen. Arkadi will mit dem Teufel nichts zu tun haben, für den Filmvorführer Sergej und seine Frau Soja sind es die Seelen der Verstorbenen, die über das Dorf fliegen.
Emil Batschurin aber, der pensionierte Geologe aus Perm, weiss von UFOs, die hier seit zehn Jahren landen. Er führt Leute zu den vermeintlichen Landeplätzen in der ZONE und lockt Neugierige an. Da hilft es auch nicht, wenn Sergej, der ehemalige Parteisekretär im Sowchos, alles als Unsinn und Betrug brandmarkt.Nikolaj, Fährmann am Fluss Sylva, hinter dem die ZONE M beginnt, bringt es schliesslich auf den Punkt: Überlebst du – gut! Überlebst du nicht – auch gut!
Über den Film
Der ehemalige DEFA-Dokumentarfilmer (Jahrgang 1939) lebt und arbeitet zusammen mit Regine Kühn. Die sogenannte Wende brachte es mit sich, daß sie freischaffende Filmemacher wurden und daß wir uns kennenlernten. Seitdem freue ich mich auf jeden Film von ihnen. Das begann mit einem kleinen Wendefilm, den Eduard Schreiber auf einer Müllhalde drehte – über das, was die Ostler damals alles schnell wegwarfen – und setzte sich dann mit der mehrstündigen Langzeitstudie Lange nach der Schlacht fort, einem Film über den Abzug einer Luftwaffeneinheit der Roten Armee. Einer der Protagonisten des Films, der Testpilot und Philosoph Rawil Chadejew, ein ganz wunderbarer Mensch, brachte die beiden Filmemacher dann auf ihr jetziges Thema: die Zone M. Dabei handelt es sich um eine Region im Ural, unweit des Ortes Kungur, die voller geographischer Anomalien ist: der Kompaß funktioniert nicht, Filme werden nicht richtig belichtet, und immer wieder verschwinden dort Leute. Unheimlich. Rawil unternahm mit den beiden Regisseuren aus der ehemaligen Ostzone eine Expedition in die Zone M. Anschließend schrieb Eduard Schreiber ein Expose und begann, damit Filmförderungsgelder zu ak-quirieren. Das gelang ihm auch – wieder einmal. Und nun ist der Film über die Zone M fertig und zu sehen: zuerst im Internationalen Form der Berlinale und demnächst im Fernsehen. Der Regisseur ist derweil schon wieder mit dem nächsten Film beschäftigt: über die Psychoanalyse in der Sowjetunion. Nachdem er zusammen mit Rawil Chadejew das Dorf Moljobka, am Rande der Zone, besucht hatte, schrieb Eduard Schreiber in seinem ersten Expose 1996: „Am Abend des 31. März 1995 nahmen mehrere Dorfbewohner ein leuchtendes Objekt wahr, das sich aus dem Fluß Sylva erhob und als Kuppel über der zerstörten Kirche niederging. Bis auf einen Augenzeugen war niemand bereit, über die Erscheinung zu sprechen. Von diesem einen, Fedja Iguschew, sagte später dessen Frau, wenn der besoffen ist, sieht er noch ganz andere Sachen."
In dem Dorf Moljobka haben sie wie in einer Nußschale alle Ingredienzen, die es braucht, um ‘Super-Erscheinungen’ am laufenden Band zu produzieren – und im Film tauchen sie dann auch alle auf.
Ich rede nicht von den üblichen unscharfen Fotos, auf denen ein dunkler Schatten oder ein heller Streifen zu sehen ist – die gibt es natürlich auch zuhauf. Ich meine das Sägewerk, den einzigen Arbeitgeber im Ort, der jedoch schon seit Jahren keinen Lohn mehr zahlt. Ich meine die völlige rustikale Reizüberflutung im Ural, an der Grenze nach Asien, also die herrliche Landschaft, ferner eine aufgelöste Sowchose, die leerstehende Parteizentrale, den arbeitslosen Parteisekretär, die aus dem letzten Loch pfeifende Agrartechnik, das Postauto, dem langsam der Sprit ausgeht usw… Und schließlich den einfallsreichen Intelligenzler – als Stalker, der in diesem Fall Emil Batschurin heißt. Er studierte in der nächsten Großstadt, Perm, arbeitete zehn Jahre als Geologe in Sibirien, war danach Polarflieger und dann Markscheider in verschiedenen Bergwerken. Nach der ‘Wende’ kaufte er zusammen mit zwei Freunden ein vierzig Hektar großes Waldgrundstück im Ural, auf dem sich eine ersc hlossene Erdgasquelle befindet, die ihnen fortan den individuellen Gelderwerb ersparte. Batschurin ermöglichte sie die Gründung einer wissensc haftliche Organisation, deren Direktor er wurde und die sich fortan der Erforschung von UFOs widmete. In Perm und Moljobka finden seitdem Symposien statt. Da haben wir den ganzen Salat. Fehlt bloß noch ein uralter Fährmann, der die ganzen Expeditionsteilnehmer (Stalker und TV-Teams) über den Fluß Sylva in die Anomaliezone bringt, wo es von Lichterscheinungen, magnetischen Abweichungen, merkwürdigen Strahlungen und Vegetationsverformungen nur so wimmelt. Der Fährmann heilst in diesem Fall/Film (natürlich) Iwan, er ist fast siebzig )ahre alt und sagt: „Ich habe schon viele übergesetzt!" Wenn man dann noch hinzufügt – und der Regisseur tut das: In der Zone M. beteten einst die Schamanen der ursibirischen Nansen, die heute noch jenseits des Urals leben, zu ihren Göttern – dann kann eigentlich gar nichts mehr schiefgehen! Will sagen: Mit diesem Film über die Zone M. ist der Ort touristisc h bereits so gut wie aus dem Schneider – und das ganz ohne Gulag. Der ehemalige Sowchos-Traktorist Aljoscha – „Filmt mich doch wenigstens einmal besoffen… Ich war schon im Zentralen Fernsehen" – setzt jedoch vorsichtshalber noch wahrheitsgemäß einen drauf: „Batschurin, der Trottel, hat sich diese Anomaliezone ausgedacht. Und die Leute fahren drauf ab… Dabei ist das gar keine Anomaliezone, sondern eine Verrücktenzone". Und wie von ungefähr schwimmt da auch schon ein riesengroßer roter Luftballon – aus Westdeutschland – auf dem Fluß. Unfaßbar!
Helmut Höge
Biofilmographie
Eduard Schreiber wurde 1939 in Obernitz/Böhmen (heute Tschechische Republik) geboren. Er studierte Publizistik und Literatur in Leipzig und war dann wissenschaftlicher Assistent am Institut für Literarische Publizistik. Er promovierte mit einer Arbeit über Egon Erwin Kisch. 1970 war er Autor beim DEFA-Studio für Dokumentarfilme. Von 1972 bis 1991 arbeitete er dort als Regisseur und Autor. 1991/92 war er Gastprofessor an der HfBK Hamburg und an der HFF Potsdam. Neben seiner Tätigkeit als freier Regisseur und Autor veröffentlichte er zahlreiche Aufsätze zur Filmtheorie und Filmgeschichte, sowie Literatur- und Filmkritiken.
Filme (Auswahl) /Films (selection)
1973: Leningrad – Stadt meiner Dichtung (Leningrad, City of my Poetry). 1974: Eisenmacher (Ironmaker). 1977: Hermann Hesse. 1978: Nun gut, wir wollen fechten (Well, We Want to Fence). 1980: Wieland Förster – Dezember 79; Erinnerungen an Häuser (Memories of Houses). 1982: Ein Bauer und seine Frau (A Farmer and his Wife). 1983: Abhängig (Dependent). 1984: Radnöti. 1985: Wissen Sie nicht, wo Herr Kisch ist (Don’t You Know Where Mr Kisch Is?). 1987: The Time is Now(Forum 1988). 1988: Rückfällig (Relapsed). 1989: Spuren (Traces). 1990: Ich war ein glücklicher Mensch (I was a Happy Person; Forum 1991). 1991: Östliche Landschaft (Eastern Landscapes). 1992: Die Tribüne (The Tribune), Unser täglich Brot gib uns heute (Give Us This Day Our Daily Bread). 1993: Der Ballon (The Balloon), Großer trauernder Mann (Tall Grieving Man). 1994: Kreml-Frauen (Kreml in Women). 1991- 95: Lange nach der Schlacht (Long After the Battle), Altes Lager 1991-1994 (Former Military Base 1991-1994), Das Ende einer Besatzung (The End ot an Occupation; Forum 1996). 1996: Tod im Kreml (Death in the Kremlin). 1997: Reise ohne Wiederkehr (One-Way Trip). 1998: Die Erfindung Goethe (Inventing Goethe). 1999: Aviatricen (Aviatrixes). 2000: ZONE M.
- Credits
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Regie: Eduard Schreiber
- Pressestimmen
Eduard Schreiber über seinen Film
Von der ZONE M hörte ich das erste Mal 1992 auf dem russischen Militärflugplatz Altes Lager bei Jüterbog. Der Testpilot, Kosmonautenanwärter, Schamane und Philosoph Ravil Chadejew, dessen Lebensgeschichte in dem Film Lange nach der Schlacht (Forum 199b) eine Rolle spielt, erwähnte dieses Gebiet in seinen Erzählungen über unerklärliche Flugobjekte, die er mehrmals in seiner Pilotenlaufbahn gesichtet hatte.
Die Geschichte geriet in Vergessenheit, Ravil kehrte mit der Sowjetarmee nach Rußland zurück, wir trafen uns in Südrußland wieder und hatten gemeinsam vor, eine Expedition nach Kamtschatka zu unternehmen. Doch in jenem Jahr waren dort ziemlich heftige Erdbeben, und so trampten wir durch den Ural. Ravil war in einer tartarischen Familie im mittleren Ural geboren, wo seine Mutter noch lebte, kannte sich also ein wenig aus. Wir fuhren die Kama, einen riesigen Fluß, der in die Wolga mündet, auf- und abwärts, hielten uns in der verbotenen Stadt Wodkinsk (dort wurde die SS 20-Rakete gebaut) auf, und als wir in Perm mit einem Kriminalkommissar zusammentrafen, der sich erbot, uns nach Moljobka zu fahren, besorgten wir uns kurzerhand ein paar Dek-ken, kauften Brot, Käse, Gurken und Knoblauch und machten uns auf den Weg. Nach einer Tagesreise erreichten wir gegen Abend den Ort Moljobka, wo alle Wege enden, denn jenseits des Flusses Sylva beginnt die ZONE M. In Perm hatten wir den Namen Batschurins erfahren, des Stalkers, der mehrfach über die Zone publiziert hatte, doch wir trafen ihn nicht an. Die Leute im Dorf zeigten sich abweisend, wir suchten den Fährmann auf, um uns über den Fluß bringen zu lassen. Für zwei Flaschen Wodka setzte er uns über. Der Kommissar hatte vorsorglich seine Dienstwaffe bei sich, und so drangen wir, ohne genau den ‘heißen’ Ort zu kennen, mit der einsetzenden Dämmerung in die Zone vor. Das Beeindruckendste war die Totenstille, die uns umfing, gegen halb drei Uhr nachts tauchte für wenige Sekunden ein helles Objekt am gänzlich schwarzen Himmel auf.
Wieder im Dorf zurück, fanden wir Batschurin vor, der gerade Pilze säuberte. Wir führten ein erstes Gespräch, in dem er mit einem halbirren Auflachen erklärte, Moljobka wäre sein Punkt auf der Ekliptik. Er ließ eine Reihe astrophysischer Begriffe und Erklärungen auf uns niederprasseln, während der Hocker, auf dem er saß, überhaupt das einzige Möbelstück im ganzen Haus, zusammenbrach. Der Mann begann mich zu interessieren. Im Jahr darauf, 1997, reiste ich erneut nach Moljobka, jetzt sc hon fest mit dem Vorsatz, dort einen Film zu drehen. Bald merkte ich, daß die Leute im Dorf keine Erklärungen für unerklärliche Vorgänge suchen. Sie suchen nach Möglichkeiten, überleben zu können. Für sie war mit dem Zusammenbruch des Sowjetsystems der letzte Halt geschwunden, sie standen selbst in ihrer kleinen Dorfgemeinschaft vor einem Chaos.Seitdem öffentlich über eine Reihe von UFO-Landungen in Rußland berichtet wurde, geriet auch die ZONE M in die Schlagzeilen als das Bermudadreieck des Urals.
M steht sicher für Moljobka, kann aber auch Abbild der Flußwindungen der Sylva sein, die genau dort, wo die ZONE sich befindet, ein M beschreibt.
Batschurin und seine jünger propagierten heftig die Landungen von UFOs. Es gab wieder etwas, woran man glauben konnte. (In einem russisc heu Dokumentartilm von 1992, den ich hier im Archiv iand, zieht sein Ufologen-Freund Ippolit Nowikow, früher Parteifunktionär und Gewerkschaftsarbeiter, wie Jesus mit erhobenen Armen durch die Millionenstadt Perm, hinter sich die Schar seiner Junger, und ruft die kosmische Vernunft um Hilfe an). Der Ort Moljobka, zu dem lediglich eine Schotterstraße führt – die Eisenbahnlinie (die Transsib, die in Wladiwostok endet) ist vierzig Kilometer entfernt, eine Busverbindung gibt es nicht, zur nächsten Ortschaft sind es dreißig Kilometer – liegt am ‘Ende der Welt’, und wirklich steht dort an der Dorfstraße, die abrupt in einen zerklüfteten Fahrweg übergeht, ein Schild: ‘Km 0’. Den Grenzpfahl ‘Europa-Asien’ kann man vom Zug aus sehen, wenn man von Perm nach jekaterinenburg, dem ehemaligen Swerdlowsk, reist. Aber diese Stadt liegt schon jenseits des Urals, etwa dreihundert Kilometer entfernt von Moljobka. Nach europäischem Maß liegt das Dorf etwa auf der Höhe von Oslo, doch das Kontinentalklima bewirkt, daß im August die Regenzeit einsetzt, die im September langsam in den Winter übergeht, der bis April, Mai anhält. In diesem Jahr, als wir endlich mit den Dreharbeiten beginnen konnten, gab es im )uni noch Nachtfröste.
In den vergangenen jähren drang die Kunde von den merkwürdigen Erscheinungen bei dem Dorf Moljobka sogar bis in die rund zweitausend Kilometer entfernte Hauptstadt Moskau, aus der sich Marina Popowitsch, eine berühmte Testpilotin und mittlerweile eifrige Propagandistin von UFO-Landungen in Rußland, dorthin auf den Weg mac hte.
Ihr folgten eine Vielzahl von Leuten na< h, aus Amerika, aus Japan und natürlich aus Rußland selbst. Die Leute im Dorf ließ das weitgehend unbeeindruckt.
Das erste Mal im Zusammenhang mit einer Katastrophe taucht der Name Moljobka im Bericht einer geographischen Expedition aus dem Jahre 1912 auf, deren Teilnehmer, bis auf einen, in dem Gebiet verschwanden. Jahrzehnte später fand man Überreste der Expedition, deren Schicksal bis heute noch ungeklärt ist. Genaueres ist aus der Ortsgeschichte bekannt – bis zu Anfang des Jahrhunderts gab es im Ort kleine Hochöfen, die das Uralerz schmolzen, es gab eine Eisengießerei, aber mit der Erschließung des Donbass ging die Uralindustrie zu Grunde. Während der Revolution und des Bürgerkrieges wechselten im Dorf mehrfach die Fronten – es kamen die Weißen, die Roten, Tschechische Legionäre, dann wieder nur Räuberbanden, bis später die Enthusiasten in das Don kamen, die Elektrizität brachten und Kommunen gründeten. Damals hatte das Dorf noch viertausend Einwohner. Das einzige, wovon man sicher weiß, ist eine Magnetanomalie, erklärbar durch die Erzvorkommen. Aber auch Gasaustritte gil)t es, die wahrscheinlich zu jenen leuchtenden Kugeln führen, die beoba< htet werden.
Es kommen immer wieder neue Gruppen von Wissenschaftlern, die nach Erklärungen suchen. Aber jetzt, wo überall das Geld ausgegangen ist, wird Moljobka bald aus dem Blickfeld verschwinden. Die Leute im Dorf haben ohnehin Wichtigeres zu tun, nämlich zu überleben.
nicht mehr lieferbar
Best. Nr.: 5531
Länge: 96
Bild: Farbe
Sprache: Russisch
Untertitel: deutsche Untertitel
Label: absolut on demand
Reihe: absolut on demand
Rubrik: Dokument
Genre: Weltansichten