Filmarchiv | DIE FRAU MIT DEN 5 ELEFANTEN

DIE FRAU MIT DEN 5 ELEFANTEN


Regie: Vadim Jendreyko

Die Erstausgabe mit gedrucktem Booklet.

„Man muss Dostojewskij lesen wie ein Schatzgräber: an den unscheinbarsten Stellen sind Juwelen vergraben, die man oft erst beim zweiten oder dritten Mal Lesen entdeckt. Er ist unerschöpflich.“

Swetlana Geier gilt als die größte Übersetzerin russischer Literatur ins Deutsche. Kurz vor ihrem Tod hat die damals 85-Jährige ihr Hauptwerk beendet, die Neuübersetzung von Dostojewskijs fünf großen Romanen, die »fünf Elefanten« genannt. Sie ist mit seinem Leben und Wirken vertraut wie wohl kaum sonst jemand. Und seine zentralen Themen, um die seine Romane immer wieder kreisen, faszinieren sie mehr denn je: Die Frage nach der Freiheit des Menschen. Seine Selbsterkenntnis. Und: kann der Zweck die Mittel heiligen?

Als junge Frau arbeitete Swetlana Geier als Dolmetscherin für die Deutschen im besetzten Kiew, verließ die Ukraine 1943 mit den deutschen Truppen und kehrte Zeit ihres Lebens nie mehr dorthin zurück. Sie studiert in Deutschland, gründet eine Familie und beginnt, russische Literatur ins Deutsche zu übertragen. Zum Ende ihres Lebens hin ist Swetlana Geier an die unbetretbaren Orte ihrer Geschichte zurückgekehrt. Der Film verwebt Swetlana Geiers Lebensgeschichte mit ihrem literarischen Schaffen und spürt dem Geheimnis dieser unermüdlich tätigen Frau nach.

Ein Film über die Verwandlung von Schrecken in Schönheit und über die behütende und rettende Kraft der Sprache.

Gedanken des Regisseurs Vadim Jendreyko zum Film

Seit mehr als 60 Jahren setzt sich Swetlana Geier mit den Möglichkeiten und Grenzen literarischer Übersetzung auseinander. Ihre Leidenschaft gilt dabei besonders den Verlusten, den Grenzbereichen, in denen es für die Worte der einen Sprache keine Entsprechung in der anderen gibt. In diesen Zonen liegen für sie die „übersetzungserotischen Momente“, hier betritt sie Neuland, in dem sie aus ihrem tiefen Verständnis der russischen wie auch der deutschen Kultur heraus neue sprachliche Wege gehen kann. Diese schöpferische Gesinnung, diese Begeisterung für die Suche nach neuen Formen prägen ihre Person wie ihr Werk und haben mich seit meiner ersten Begegnung mit ihr elektrisiert.

Ich begann mich mehr und mehr für Swetlana Geiers Arbeit als Übersetzerin der grossen Romane von Dostojewskij zu interessieren, für ihre Art der Verinnerlichung von Texten, ihrem sinnlichen Umgang mit Sprache. Und durch sie traten mir Dostojewskijs Fragen zu Freiheit und dem Verhältnis zwischen Mittel und Zweck lebendig entgegen.

„Wer bin ich?“ Diese Frage ist der innere Antrieb aller zentralen Figuren in den Werken Dostojewskijs. Auf der Suche nach einer Antwort stürzen die Helden in innere Abgründe oder werden zu Mördern, doch hinter dem Desaster steckt immer die Selbsterkenntnis oder ein Schritt in diese Richtung.

Swetlana Geier war in ihrem Leben mit Stalinismus und Nationalsozialismus konfrontiert, sie hat ihre Heimat, die Ukraine, hinter sich gelassen, um in einem ganz anderen Teil Europas schliesslich sich selbst zu finden.

Während der Entwicklung dieses Projektes wurde mir bewusst, dass ich mich einmal mehr mit einem Flüchtlings- bzw. Migrantenschicksal auseinandersetze, mit einem Menschen, der seinen eigenen Weg zwischen den Mühlsteinen seiner Zeit hat finden müssen. Ein Thema, das ich in meiner Arbeit nicht explizit suche, das mir aber immer wieder begegnet und hinter dem auch die Frage nach meiner eigenen Identität steht: „Wer bin ich?“

Und so ist die Frage, die Dostojewskijs Figuren antreibt auch der innere Angelpunkt, von dem aus ich selber dieser Frau, ihrem Leben und ihrem Wirken begegne.

Swetlana Geier – Biografischer Überblick

1923

Swetlana Geier, geborene Iwanowa, kommt am 26.4.1923 als einziges Kind russischer Eltern in Kiew zur Welt. Sie besucht eine einfache Schule und nimmt auf Veranlassung der Mutter Privatunterricht in Deutsch und Französisch.

1938

Ihr Vater, ein Agronom, wird im Rahmen der politischen Säuberungen Stalins als Volksfeind verhaftet.

1939

Tod des Vaters kurz nach seiner Entlassung. Er stirbt an den Folgen der Misshandlungen, die er in 18 Monaten Haft erlitten hat.

1941

Abschluss der Schule. Am Tag ihres Abiturs überfällt Hitler die Sowjetunion. Im Herbst besetzt die Wehrmacht Kiew. Am 29. und 30. September wird ihre Jugendfreundin Neta Tkatsch mit 30’000 anderen Juden in der Babij Jar Schlucht bei Kiew durch ein Sonderkommando der SS umgebracht. Swetlana Michailowna Iwanowa arbeitet während der deutschen Besetzung als Dolmetscherin im Geologischen Institut der Akademie der Wissenschaften und bei der Dortmunder Union Brückenbau AG.

1943

Nach der Niederlage in Stalingrad zieht sich die Wehrmacht aus Kiew zurück. Ein grosser Teil der Bevölkerung wird deportiert, den Zurückbleibenden drohen erneute Säuberungen durch Stalins NKWD Truppen. Swetlana verlässt mit ihrer Mutter Kiew. Im September wird sie in Dortmund in ein Ostarbeiterlager interniert.

1944

Im April erwirken deutsche Helfer ihre Freilassung und lotsen sie nach Berlin, wo ihr nach einer Begabten-Prüfung ein Humboldtstipendium zuerkannt wird (einer Sowjetischen Staatsbürgerin!). Auch erhalten sie und ihre Mutter Fremdenpässe, mit denen sie nach Freiburg im Breisgau reisen können, wo sie sich niederlassen. Ihre wohlwollende Behandlung führt zu einer politischen Säuberung des verantwortlichen Ministeriums für die Besetzten Ostgebiete, welches daraufhin der NSDAP unterstellt wird. Der Beamte, der sich für sie eingesetzt hat, wird an die Ostfront geschickt.

1945

Nach Kriegsende studiert sie in Freiburg Germanistik und Vergleichende Sprachwissenschaft, heiratet Christmut Geier, von dem sie sich 1962 scheiden lässt, und wird Mutter zweier Kinder.

1957

Sie beginnt, russische Literatur ins Deutsche zu übertragen und nimmt ihre Lehrtätigkeit an der Universität Karlsruhe auf, die bis heute andauert.

1963-89

Russisches Lektorat am Slawischen Seminar Freiburg mit Schwerpunkt Methodik des Sprachunterrichts, Übersetzung und Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts.

1988-92

Lehrauftrag an der Universität Herdecke.

1992

Beginn der Zusammenarbeit mit Egon Ammann, für dessen Verlag sie in 15 Jahren die fünf grossen Romane von Fjodor Dostojewskij übersetzt: „Verbrechen und Strafe“, „Der Idiot“, „Böse Geister“, „Die Brüder Karamasow“ und „Ein grüner Junge“.

2006

Unfall ihres Sohns Johannes. Er ist Werklehrer, im Unterricht verletzt er sich schwer und muss fortan gepflegt werden.

2007

Erste Reise seit 1943 zurück in die Ukraine. Im Herbst stirbt ihr Sohn Johannes an den Folgen seines Unfalls.

2008

Beginn der Arbeit an der Übersetzung von Dostojewskijs „Der Spieler“ (erscheint im Herbst 09 im Ammann Verlag).

2009

Beginn ihrer wie sie sagt letzten Dostojewskij Übersetzung: „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“. Nach wie vor unterrichtet sie an den Universitäten Karlsruhe und neuerdings auch wieder in Freiburg.

Swetlana Geier hat in Ihrer Laufbahn Werke von Puschkin, Gogol, Tolstoi, Solschenizyn, Platonov, Belyj, Tschukowskaja, Sinjawskij, Afanasjew, Wojnowitsch, Katajew, Bunin, Bulgakow und Dostojewskij ins Deutsche übertragen. Ihre Übersetzungen erschienen u.a. bei den Verlagen Ammann, S. Fischer, Luchterhand, Reclam und Dörlemann.

Für ihre herausragenden Verdienste um die Vermittlung russischer Kultur, Geschichte und Literatur erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt den Preis der Leipziger Buchmesse 2007.

Sie ist Trägerin der Ehrendoktorwürde der Universitäten Basel und Freiburg.

Fjodor M. Dostojewskij – Leben und Werk: eine Skizze

Dostojewskij, geboren 1821 in Moskau, gestorben 1881 in Petersburg, war der Sohn eines Arztes. Nach dem Tod der Mutter 1837 geht er nach Petersburg, um dort das Ingenieursstudium an der Militärakademie aufzunehmen. 1839 stirbt sein Vater auf seinem Landgut unter ungeklärten Umständen.1844 entschließt sich Dostojewskij, Schriftsteller zu werden. Ein Jahr später erscheint sein erster Roman, „Arme Leute“, der von Wissarion Belinskij, dem maßgebenden Kritiker, enthusiastisch begrüßt wird. Weniger erfolgreich ist sein zweiter Roman, „Der Doppelgänger“, der aber bereits die Zerrissenheit der späteren Helden seiner großen Romane vorwegnimmt: Raskolnikow, Stawrogin, Wersilow und Iwan Karamasow. 1849 wird Dostojewskij wegen Teilnahme an den liberalen Diskussionen des Petraschewskij-Kreises verhaftet, vom Zaren Nikolaus I. zum Tode verurteilt und, nach einer Scheinhinrichtung, zu vier Jahren Zuchthaus in Sibirien mit anschließendem Militärdienst im Siebten Sibirischen Linienbataillon in Semipalatinsk begnadigt. 1859 wird er auf eigenen Antrag an den Zaren Alexander II. aus der Armee entlassen, unter Berufung auf seine Epilepsie. Rückkehr ins literarische Leben. Der fiktionalisierte Sträflingsreport „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ (1862) dokumentiert den Kriminologen und missionarischen Christen, der für die ab 1866 erscheinenden fünf großen Romane, auf denen sein Weltruhm beruht, typisch ist:: „Verbrechen und Strafe“, „Der Idiot“, „Böse Geister“, „Ein grüner Junge“, „Die Brüder Karamasow“. Seine Erzählung „Aufzeichnungen aus einem Kellerloch“ von 1864 hat als polemische Stellungnahme gegen die instrumentelle Vernunft, die im Kristallpalast der Londoner Weltausstellung ihr Wahrzeichen findet, eine eigene Wirkungsgeschichte. Mit seiner Zeitschrift „Tagebuch eines Schriftstellers“ (1873-1881) liefert Dostojewskij fortlaufende Kommentare zum Zeitgeschehen. Im historischen Konflikt zwischen „Slawophilen“ und „Westlern“ steht Dostojewskij auf der Seite der Slawophilen. Seine fundamentale Kritik an Westeuropa findet in seinem Reisebericht „Winterliche Aufzeichnungen über sommerliche Eindrücke“ ihre literarische Zusammenfassung. Dostojewskij war zweimal verheiratet. Zunächst mit Marja Isajewa (ab 1857), die 1864 starb, dann mit Anna Snitkina (ab 1867), die ihn um viele Jahre überlebte und „Erinnerungen“ sowie ein „Tagebuch des Jahres 1867““ hinterlassen hat. Seine Liebesaffäre mit Apollinaria Suslowa (1861-1863) hat Dostojewskij in seinem Kurzroman „Der Spieler“ verarbeitet.

Dostojewskij gilt als einer der einflussreichsten Schriftsteller der Weltliteratur.

Horst-Jürgen Gerigk

Extras

DVD-Extras
Nicht verwendete Szenen:
Gedichte 2:49
Sprache und Übersetzung 11:31
Über Fjodor Dostojewskij 6:46
Gedanken 5:38
Trailer 1:52

20-seitiges Booklet mit exklusiven Texten

Inhaltsübersicht

Intro
Frau Hagen
Die Familie
Text und Textil
Herr Klodt
Sohn und Vater
Die Reise beginnt
Die Sprachen sind nicht kompatibel
Puschkin und Goethe
Die Nase hoch beim Übersetzen!
In der Sophienkathedrale
Kindheit und Krieg
Das Schneebild von Igor Grabar
Mittel und Zweck
Was ist Wald?
Die Geschichte vom Hecht
Ende der Jugend in Kiew
Suche nach dem Storchenbrunnen
Am Grab des Vaters
Flucht, Arbeitslager und Helfer
Die Übersetzerin
Tod und Transformation
„Die herrlichen Pferde“
Schlusstitel

Credits
Regie: Vadim Jendreyko

Produktionsland: CH/D
Produktionsjahr: 2009
Pressestimmen

“Sein Gelingen verdankt “Die Frau mit den 5 Elefanten” in erster Linie der filmischen Übersetzung des Geistigen ins Taktile." Die Zeit

“Den eigentlich sehr unfilmischen Vorgang des Übersetzens macht der Film auf faszinierende Weise anschaulich, kann ihn weiterführen in seinen Bildern und Klängen, die Durchlässigkeit und Fragilität ausstrahlen, eine Atmosphäre des Übergangs.” Süddeutsche Zeitung

“Film der Woche… reines Vergnügen!” SF Box Office

“…simpel gesagt: auf der Höhe seiner Protagonistin – ein meisterliches Werk!” DU

“Vor allem ist es auf bewunderswert subtile Weise gelungen, den Prozeß des Übersetzens von einer Sprache in eine andere filmisch so umzusetzen, dass mit Bildern, Szenen, Klängen eines anderen Mediums die Übersetungsarbeit weitergeschrieben wird.” Neue Zürcher Zeitung

“Der Film verwebt Geiers Leben mi tihrem literarischen Schaffen und erzählt von großem Leid und ihrer Liebe für Sprache.” Nwz

“1943 arbeitete sie in Kiew als junge Dolmetscherin für die Deutschen und ging mit ihnen, als Greisin sucht sie in der Ukraine ihr altes Dorf auf. Dazwischen liegt ein abenteuerliches Leben, in der Übersetzen auch Suche nach Sinn und Trost bedeutet. Sie stirbt kurz nach Beendigung der Neuübersetzung von Dostojewskijs fünf Großromanen. Ein berührender Film, allein die skurrilen Streitgespräche mit ihrem Hausfreund über den richtigen Ausdruck sind großartig.” Neues Deutschland

Auszeichnungen

Gewinner Schweizer Filmpreis
Nominierung Deutscher Filmpreis
Nominierung Europäischer Filmpreis
DEFA Förderpreis, Dok Leipzig
Visions du Réel: Jury Preis
Silverdocs: Grand Jury Award

DVD
nicht mehr lieferbar

Best. Nr.: 4057
ISBN: 978-3-8488-4057-1
EAN: 978-3-8488-4057-1
FSK: 6

Länge: 94
Bild: PAL, Farbe, 16:9
Ton: Dolby Stereo, Dolby Sorround
Sprache: Deutsch, Russisch
Untertitel: Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Portugiesisch, Polnisch, Russisch, Spanisch
Regionalcode: codefree

Label: absolut MEDIEN
Rubrik: Dokument
Genre: Biografie/Porträt


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