Filmarchiv | Stadt ohne Juden, Die (1924)
Stadt ohne Juden, Die (1924)
Regie: Hans Karl Breslauer
Noch mehr Infos hier: https://film.absolutmedien.de/stadt-ohne-juden/
»Die Stadt ohne Juden« betitelte Hugo Bettauer 1922 seinen Roman, der die damals noch utopische Vorstellung einer Vertreibung der Juden aus Wien beschrieb. Nur zwei Jahre später kam die Verfilmung in die Kinos. Im Film wurde der brisante Stoff abgeschwächt, konkrete realpolitische Bezüge vermieden: In der sagenhaften Republik Utopia, Adresse: Ballhausplatz in Wien, herrscht Unruhe. Die Arbeiter gehen auf die Straße, das Geld ist nichts mehr wert, Spekulanten befeuern mit ihrer Habsucht die Inflation. In den Wirtshäusern kennen die Menschen schon die Lösung: Hinaus mit den Juden.
Die überspitzte politische Botschaft wurde verstanden. 14 Jahre nach der Filmpremiere wurde DIE STADT OHNE JUDEN von der grausigen Wirklichkeit eingeholt. Der Film gilt heute weltweit als erstes explizites filmkünstlerisches Statement gegen den Antisemitismus. Mit der Wiederentdeckung von verschwundenen Teilen des Films in Frankreich wurde die Basis für eine umfassende Rekonstruktion und Restaurierung von DIE STADT OHNE JUDEN gelegt. Olga Neuwirth komponierte die neue Filmmusik, eingespielt vom Ensemble intercontemporain. Das umfangreiche Booklet enthält u.a. einen eigens verfassten Text von Elfriede Jelinek.
Musik (2017): Olga Neuwirth
Auftragswerk von Konzerthaus Wien, The Barbican London, Ensemble intercontemporain Paris, Elbphilharmonie Hamburg, Sinfonieorchester Basel
Ensemble intercontemporain
Martin Adámek, Klarinette
Vincent David *, Saxophon
Lucas Lipari-Mayer, Trompete
Jérôme Naulais, Posaune
Samuel Favre, Schlagzeug
Sébastien Vichard, Klavier
Pierre Bibault *, Elektrische Gitarre
John Stulz, Bratsche
Pierre Strauch, Violoncello
*Gastmusiker
Dirigent: Matthias Pinscher
Musikproduktion: Thomas Schmölz, 2eleven || zeitgenössische musik
projekte
Redaktion: Nina Goslar
Eine Produktion des ZDF in Zusammenarbeit mit ARTE
© der Musikaufnahme 2019
“Es sind allein die Töne, die das Wissen um den Holocaust reflektieren können.” Tagesspiegel
“Für die jetzt vollständig vorliegende Fassung hat Olga Neuwirth eine passend dissonante Auftragsmusik komponiert, die das Ensemble Intercontemporain eingespielt hat.” Frankfurter Allgemeine Zeitung
Aus Elfriede Jelineks Booklettext zu STADT OHNE JUDEN und der neuen Musik von OLGA NEUWIRTH:
“…Die Ausreise aller Juden wird also vollzogen, die Züge fahren, und es erwischt jeden, auch einen, der wie eine Stürmerkarikatur aussieht und lachend erklärt, er sei ja gar kein Jude, was für ein glücklicher Zufall!, im Film ist das noch möglich, später wurden auch diejenigen, die sich nie als Juden gefühlt oder gelebt hatten, der Totalität geopfert, ohne die es keine absolute Macht gibt, die totale Macht, die wir wollen, solange sie nur uns gehört. Wenn die finanzielle Lage katastrophal wird und die Arbeiter ihre Arbeit nicht mehr finden, weil die Juden sie ihnen weggenommen haben, dann müssen die eben weg. Nichts da! Die Arbeit bleibt da. Doch wer gibt sie uns? Die Unternehmer geben sie uns, die aber zum großen Teil jetzt auch weg sind. Wer hat die Presse und damit die öffentliche Meinung? Der Jude. Wer hat Milliarden um Milliarden angehäuft? Der Jude. Wer sitzt an den leitenden Stellen der Großbanken und fast sämtlicher Industrien? Der Jude. Wer, wer, wer? Und was macht er sonst noch? Er praßt in Nachtlokalen, füllt die Kaffeehäuser und Restaurants und behängt Frauen mit Schmuck? Der Jude. Stücke schreibt er auch noch. Bilder malt er auch noch. Hier zählt es zum letzten Mal, was er getan hat, verehrte Anwesende! Zählen Sie ruhig nach! Die Minderheit muß weg, damit es der Mehrheit besser geht. Das ist wohl Grund genug. Wer zählt schon nach, wieviele Millionen es am Ende gewesen sein werden. Sie werden gut angelegt sein, damit wir alle endlich wieder gut aufgelegt sein können.
Und aus Olga Neuwirths neuer Musik zu dem Film, die das übliche Geklimper von Stummfilmmusik zur Wahrheit zwingt, soweit die Musik die Wahrheit überhaupt sagen kann, und die Musik reißt auch diese Differenz zwischen der Unschuld eines Films, der aus Licht und Nichtlicht besteht und dem schon sicher Gewußten (obwohl es noch gar nicht stattgefunden hat) auf. Zwischen dem Gewoge der triumphierenden Rücken des Umvolks, das grade die Juden entfernt hat, das müssen wir feiern!, und den langsamen, leisen, sich in diffusem Rauschen beinahe verlierenden Synagogengesängen, zwischen dem anschwellenden Volksgemurmel der verlogenen Wiedersehensfreude und dem Bocksgesang des allseits und allzeit beliebten Volkstümlichen fährt plötzlich die scharfe Schneide eines an Kanzler Schwertfeger angemaßten Motivs heraus, die Trompete reißt für einen Augenblick das schon wieder feiernde Volk (Hauptsache, es gibt was zu feiern!) auseinander, dann gehen die Wächter schlafen. Wer jetzt noch aufwacht, der wird aber schauen! Wer jetzt noch jubelt, der wird sich anschauen."
Aus OLGA NEUWIRTHs Booklettext zu ihrer Musik zu STADT OHNE JUDEN:
“Es gibt keine einfache Antwort auf die komplizierte Beziehung zwischen Bild und Musik bei einem Film, der durch sein Thema eine prophetische Vision war. Natürlich will ich nicht in reine Repräsentation oder „Mickey Mousing“, wie es Hanns Eisler nannte – verfallen, aber manchmal tue ich es trotzdem, und zwar wenn ich es für notwendig halte – auch immer wieder mit bitterer Ironie. Denn trotz meines Erstarrens vor Entsetzen (auch weil sich nicht viel geändert zu haben scheint, seit dem Erscheinen des Buches 1922), und um Klischees zu entgehen, auch wenn ich sie oft andeute, habe ich versucht, eine Lebendigkeit zu bewahren, indem die Musik zugleich anrührend und hart ist, herzenswarm und offen, amüsant und wütend, beteiligt und distanziert, humorvoll und traurig. Es geht nicht nur um den tief in der österreichischen Seele verwurzelten Antisemitismus, sondern auch um Identität und Fremdheit, Heimat und Flucht. Um nur ein paar meiner „Techniken“ zu erwähnen: Ich verwende mehrere Fragmente österreichischer Jodler, die ich veränderte. Sie sind Teil der Sample-Ebene, die den gesamten Film hindurch läuft, aber sie tauchen auch in manchen Instrumentalteilen auf. Auch benutze ich ein paar sehr kurze Ausschnitte von Heurigenliedern, die Hans Moser gesungen hat. Hans Moser, der im Film den antisemitischen „Rat Bernart“ spielt, war damals schon ziemlich berühmt, dank seiner Auftritte in der Wiener Kabarett- und Revueszene nach dem Ersten Weltkrieg, und wurde später zur Ikone des typischen weinliebenden, melancholischen Österreichers, der trinkt, um zu vergessen. Die Verwendung existierenden musikalischen Materials findet sich darüber hinaus auch in einem fragmentierten Zitat eines Lieds, das in Österreich bei rechtspopulistischen Wahlveranstaltungen der letzten Jahre zum Einsatz kam. Es erschreckt mich, mit welcher Hingabe viele Leute dieser Art von nationalistischen Parolen und manipulativer Musik folgen. Ja, leider war Österreich immer und immer wieder ein Vorreiter für rechtspopulistische Bewegungen …”
“I had my seen the film before with the standard piano tinkles. „Your” version was so special—the film restoration was absolutely stunning, and the way you set each scene! There was such an air of, I don’t know how to describe it, INEVITABILITY, belonging and necessity between the picture and your music. This incredible tension of feeling like you know sounds in your soul but can’t remember from where. Like grasping for images in a dream that’s fading, and returns in flashes when you least expect it.“ Regisseurin Lydia Steirer
Wien zu Beginn der 1920er Jahre, im Film als Republik ‚Utopia‘ bezeichnet. Durch Inflation und Arbeitslosigkeit ist die Bevölkerung verarmt. Angeführt von nationalistischen Politikern fordert sie die Ausweisung der Juden, die für die wirtschaftliche Misere verantwortlich gemacht werden. Vom Ausweisungsdekret betroffen ist auch ein junges Paar, der Jude Leo Strakosch und Lotte, das typisch süße Wiener Mädel. Nach einem kurzen wirtschaftlichen Aufschwung tritt eine erneute Rezession ein, weil ‚Utopia‘ von der ausländischen Wirtschaft boykottiert wird. Leo Strakosch kehrt inkognito zurück und agitiert mit nächtlichen Plakataktionen für die Rücknahme des Ausweisungsgesetzes. Seine Aktion hat Erfolg, eine erneute Abstimmung wird angesetzt. Leo schafft es, dass der Wortführer der Antisemiten, Rat Bernart (Hans Moser) nicht pünktlich zur Abstimmung erscheint, so dass die notwendige Mehrheit für die Rücknahme gesichert ist. Leo und Lotte sind nun endlich glücklich vereint, Bernart wird ein Fall für die Psychiatrie.
Der Film entstand nach dem zu seiner Zeit populären, satirischen Roman von Hugo Bettauer, der 1925 von einem Rechtsradikalen ermordet wurde. Zeitgeschichtlicher Hintergrund war die Massenimmigration osteuropäischer Juden während des Ersten Weltkriegs nach Wien, die den latenten Antisemitismus verschärfte. Der Film war lange Zeit nur in einer gekürzten Fassung zu sehen, in der die Sequenzen mit dem ungeschönten Antisemitismus in Wien fehlten. Hier die aktuelle Restaurierung mit neukomponierter Musik von Olga Neuwirth, eingespielt vom Ensemble Intercontemporain.
Biographie Hans Karl Breslauer (Regie)
Hans Karl Breslauer (1888 – 1965) kam als Schauspieler zum Film und begann als Drehbuchautor. Sein Debut als Filmregisseur gab er 1918 mit der Sascha-Film-Produktion ‘Ihre beste Rolle’. Ab 1921 war Breslauer für die Mondial-Film tätig, unter deren Dach er seine eigene Filmproduktionsgesellschaft, die H.K.B.-Film gründete. 1923 inszenierte er seinen erfolgreichsten Film, ‚Die Stadt ohne Juden‘. Anschließend wandte er sich mehr und mehr der Schriftstellerei zu und publizierte regelmäßig in Österreich und Deutschland. Breslauer trat 1940 in die NSDAP ein. Er starb 1965 in Salzburg.
- Extras
Das ausführliche Booklet enthält u.a. einen eigens verfassten Text von Elfriede Jelinek.
- Credits
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Darsteller: Johannes Riemann, Karl Thema, Anny Milety, Eugen Neufeld, Hans Moser
Musik: Olga Neuwirth, eingespielt vom Ensemble Intercontemporain
Regie: Hans Karl Breslauer
Produktionsland: AT
Produktionsjahr: 1924
- Pressestimmen
“Der Film erzählt von der Vertreibung der Juden aus der in eine Wirtschaftskrise geratenen Republik Utopia – und von ihrer Rückholung, weil die Krise ohne die Juden nur noch schlimmer wird. Hans Moser ist darin als antisemitischer Rat zu sehen, der angesichts der Rückkehr der Juden irre wird. “Die Stadt ohne Juden” prangert Antisemitismus als inhuman an, reproduziert aber auch Stereotype, wie es nach dem Holocaust nicht mehr möglich wäre, und setzt mitunter ganz unbefangen auf typische Stummfilm-Komik. Kinounterhaltung für ein breites Publikum!" Tagesspiegel
“Erschreckend sind das 1922 entworfene Szenario und die dargestellte Euphorie der Antisemiten, die „Die Stadt ohne Juden“ zeigt, gewiss. Der prophetische Blick der Satire macht aber nur dann staunen, wenn man vom politischen Klima Wiens zu dieser Zeit nichts weiß. Schon um die Jahrhundertwende wurde die zionistische Bewegung Theodor Herzls von links und rechts verspottet. Antisemitismus war salonfähig und wurde zunehmend gewalttätig.” Frankfurter Allgemeine Zeitung
“Es sind allein die Töne, die das Wissen um den Holocaust reflektieren können.” Tagesspiegel
“So erreicht uns heute diese filmische Flaschenpost als ein beklemmendes, dabei gleichzeitig bizarres Menetekel. Dieser Film ist keineswegs ein durchweg gelungenes Meisterwerk. In seiner Unbekümmertheit hält er uns aber – mit dem Wissen um die nachfolgenden Ereignisse – einen gespenstischen Zerrspiegel vor. Sein fast unheimlicher Reiz speist sich aus der Diskrepanz zwischen Fiktion und der kurze Zeit später brachial einbrechenden Zeitgeschichte.
Im Film gibt es grandiose Momente. In einer Caligari-Parodie findet sich ausgerechnet Hans Moser als stramm-nationalistischer Abgeordneter in einem philosemitischen Alptraum wieder. Die Realität verlief anders und offenbart viele Widersprüche. Der von Goebbels verehrte Moser konnte seine Ehefrau vor den „Nürnberger Gesetzen“ retten, spielte dafür bis zum bitteren Ende den populären Komödianten. Sowohl Regisseur Hans Karl Breslauer als auch Hauptdarsteller Johannes Riemann wurden NSDAP-Mitglieder. Letzterer trat sogar vor SS-Wachmannschaften in Auschwitz auf. Hugo Bettauer, der Autor der Romanvorlage, fiel 1925 einem Mordanschlag zum Opfer. Auch die meisten im Film eingesetzten jüdischen Statisten dürften die Jahre zwischen 1938 und 1945 nicht überlebt haben.” Berliner Zeitung“Ein großartiges Stück Filmgeschichte, das in der heutigen Zeit um so wichtiger erscheint. Die Blu-ray zeigt den Film in sehr guter Bild- und Tonqualität. Die neu komponierte Musik von Olga Neuwirth macht den Stummfilm noch stimmungsvoller als er ohnehin schon ist.” nextgamersnet
“Clou des Films ist zweifellos die neue Musik von Olga Neuwirth, die vom Ensemble intercontemporain eingespielt wurde. Mit dissonanten Tönen, vielfältiger Mischung von Bruchstücken aus Heurigenliedern, Jodlern, religiösen Klängen und Dialogfetzen bis hin zu beunruhigend anschwellender Musik, wenn der Unmut des Volkes sich steigert oder die Ausweisung beschlossen wird, lässt Neuwirth immer schon das Wissen um den folgenden realen Holocaust mitschwingen und damit dieses einzigartige visionäre Filmdokument in Dialog mit der Geschichte treten.” filmnetz.com
“Gewaltig und mit vielen Motiven aus dem Jiddischen unterlegt, betont diese Musik das Unheimliche, Unaufhaltbare der Handlung und träg maßgeblich zu dem prophetischen Charakter des Films bei.” filmrezensionen.de
- Auszeichnungen
Olga Neuwirth erhält den Robert Schumann-Preis für Dichtung und Musik 2020
Olga Neuwirth erhält für ihre Filmmusik den OPUS KLASSIK als Komponistin des Jahres
nicht mehr lieferbar
Best. Nr.: 3018
ISBN: 978-3-8488-3018-3
EAN: 978-3-8488-3018-3
FSK: Infoprogramm
Länge: 90
Bild: PAL, viragiert
Ton: Dolby Digital
Sprache: Deutsch
Untertitel: englische und französische Untertitel
Regionalcode: codefree
Label: ARTE Edition
Edition: Arte Edition
Reihe: Stummfilm
Rubrik: Spielfilm
Genre: Historienfilm