Film | DIE GEZEICHNETEN (1922)

DIE GEZEICHNETEN (1922)


Regie: Carl Theodor Dreyer

Carl Theodor Dreyers erster in Deutschland entstandener Film mit der neuen Musik von Bernd Thewes. Das Zarenreich ist im Umbruch, zwei Geschwister zwischen revolutionären Zellen, mittelalterlich anmutender Armut und antisemitischen Anfeindungen:

Russland um 1905, am Vorabend der ersten russischen Revolution. Auf dem Land kündigt sich der historische Umbruch an, noch aber herrschen tief sitzende Ressentiments, insbesondere gegen die jüdische Bevölkerung. So verlässt die junge Jüdin Hanne-Liebe Segal ihr Heimatdorf und hofft, bei ihrem Bruder Jakow in St. Petersburg unterzukommen; er ist zum Christentum konvertiert, um in der Stadt als Anwalt arbeiten zu können. Hanne-Liebe trifft ihren alten Freund Sascha wieder, der sich einer revolutionären Gruppe angeschlossen hat. Zu dieser gehört der undurchsichtige Rylowitsch, der seine Genossen an die russischen Behörden verrät und als Wandermönch antisemitische Hetze betreibt. In Hannes Heimatdorf löst Rylowitsch ein Pogrom gegen die jüdische Bevölkerung aus, unterstützt von Fedja, Hanne-Liebes Spielkameraden aus Kindertagen. Hanne-Liebe und Jakow geraten in die gewaltsamen Ausschreitungen, als sie in ihr Dorf kommen, da ihre Mutter im Sterben liegt. Jakow wird von Rylowitsch erschossen, Hanne-Liebe wird in letzter Sekunde von Sascha gerettet.

Bei seiner Verfilmung folgt Dreyer zum Teil sehr getreu dem 1914 erschienenen dänischen Roman ELSKER HVERANDRE / DIE GEZEICHNETEN, der in Deutschland kurz nach dem Ende des 1. Weltkriegs sehr populär war und 1922 eine Auflage von 35.000 Exemplaren erlebte. Der Roman zeichnet ein naturalistisches Bild der Kräfte und Bewegungen, die in der russischen Gesellschaft am Vorabend der bürgerlichen Revolution von 1905 virulent waren, und konkretisiert diese am Schicksal von fünf jungen Menschen, die sich im Strudel der historischen Ereignisse begegnen, finden und verlieren.
 
In der zeitgenössischen Presse wird Dreyers Verfilmung als ‚Großfilm’ angekündigt. Im Original war der Film 2.833 m, was einer Filmdauer  von 124 Minuten entspricht (bei 20 Bilder/Sec). Die aktuelle restaurierte Länge ist 2172 m, gleich 95’,  es fehlen also 30 Minuten. Hält man Madelungs Romanvorlage dagegen, kann man sich gut vorstellen, dass Dreyer, möglicherweise inspiriert durch Griffith’s INTOLERANCE, ein großes Filmepos über den jahrhundertealten Kampf der Konfessionen im Sinn hatte, zugespitzt auf den historischen Wendepunkt der bürgerlichen Revolution in Russland von 1905, die die Emanzipation der Juden historisch ermöglicht, und mit der Dreyer zugleich den Identitätskonflikt von Jakow thematisiert,  quasi stellvertretend für den Glaubensverlust in der anbrechenden Moderne. Gut vorstellbar ist auch, dass in der ursprünglichen zwei-Stunden-Fassung des Films eine sehr viel längere Exposition über die Einbettung der jüdischen Gemeinden im Alltagsleben des russischen Volks vor der Wende zum 20. Jahrhundert vorhanden war; in der nun vorliegenden restaurierten Fassung, die der russischen Exportversion der GEZEICHNETEN als der einzigen Überlieferung des Films folgt,  wirkt der Anfang sehr fragmentarisch und führt mit wenigen Zwischentiteln nur stichwortartig  in die Geschichte ein.
 
Trotz aller Kürzungen macht sich die besondere Qualität des Films bemerkbar. Dreyer verdichtet die Geschichte in kammerspielhaften Tableaus und erzählt von den Erschütterungen zu Beginn der Moderne, vom Zusammenbruch der alten Welt und den damit einhergehenden Identitätskrisen. Fern jeder Melodramatik geht es um verhängnisvolle Vorurteile zwischen Juden und Russen, innere und äußere Konflikte des konvertierten Jakow, um Aktionen der jungen Revolutionäre und die Passivität der bürgerlichen Intellektuellen – und schließlich um den langen Weg zwischen Trennung und Versöhnung.

Die Personen der Geschichte

Hanne-Liebe
Die russische Jüdin Hanne-Liebe lernte schon als Kind in einer christlichen Mädchenschule die Vorbehalte der russischen Bevölkerung gegenüber den Juden kennen. Sie ist liiert mit Sascha, einem jungen revolutionsbegeisterten Russen aus einem liberalen Elternhaus. Ihre Liebe zu Sascha und der Kontakt zu ihrem konvertierten Bruder Jakow bringen sie in einen tiefen Konflikt mit ihrer Familie.

Jakow
Hanne-Liebes Bruder Jakow ist zum Christentum konvertiert; nur so kann er als Anwalt in St. Petersburg arbeiten. Seine Frau lehnt den Kontakt zu seiner jüdischen Familie ab; so fährt Jakow allein zurück in seinen Heimatort, als seine Mutter im Sterben liegt, und gerät dort in ein Pogrom. Doch auch seine Konversion schützt ihn nicht vor den Ausschreitungen des wütenden Mobs.

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Fedja
Die russisch-orthodoxen Nachbarn der Familie Segal sind überzeugte Anti-semiten, trotzdem spielte Fedja als Kind mit Hanne-Liebe. Als Erwachsene stehen sich Beide wieder gegenüber, voller Hass und Angst: der Phlegmatiker Fedja, der lange Zeit in den Feldern als Aussteiger lebte, führt den Mob an und bedrängt Hanne-Liebe im Haus ihrer Eltern.

Sascha
Sascha, Hanne-Liebes Freund, ist russischer Revolutionär und bereit, für seine politischen Ideale sein Leben zu geben. Sein vermeintlicher Genosse Rylowitsch verrät ihn, Sascha wird verhaftet und kommt dank eines Amnestie-Erlasses der abdankenden zaristischen Regierung wieder frei. In letzter Minute gelingt ihm die Rettung von Hanne-Liebe aus den Händen von Fedja.

Rylowitsch
Der Russe Rylowitsch führt ein doppeltes Spiel; er führt Sascha in eine revolutionäre Gruppe ein, um diese anschließend an die zaristische Geheimpolizei zu verraten. Getarnt als Mönch, betreibt er auf dem flachen Land antisemitische Propaganda: diese Propaganda dient der Aufrechterhaltung der in revolutionären Zeiten gefährdeten Staatsräson, da die Juden den Zar nicht als Vertreter Gottes auf Erden verehren können. Rylowitschs teuflischer Plan geht auf.

Zum Film

DIE GEZEICHNETEN entstand in Dreyers früher Schaffensphase, es war der erste Film, den er außerhalb Dänemarks drehte, produziert von der Filmgesellschaft PRIMUS FILM, einer der kleinen Filmproduktionsfirmen, die kurz nach dem ersten Weltkrieg emporstrebten. Die Filmpremiere war am 7. Februar 1922 in Kopenhagen, die deutsche Erstaufführung fand am 23. Februar 1922 bei der Eröffnung des Primus-Palastes in der Potsdamer Straße in Berlin statt. Für den Auslandseinsatz wurde der Film umgeschnitten und mit internationalen Zwischentitelfassungen angeboten (englischsprachige Version: LOVE ONE ANOTHER, russische: POGROM).

Gedreht wurde der Film in der Nähe von Berlin. In Groß-Lichtenfelde-Ost entstand eine Film-Stadt, die aus 25 verschiedenen Bauten bestand; mit einer Kommandatur, einer Synagoge und einer russischen Kirche wurden ein veritables Russen- und Judenviertel nachgebaut. Trotz offensichtlicher und von Dreyer immer wieder beklagter logistischer Schwierigkeiten beeindruckt der Film noch heute durch seine authentisch wirkenden Szenen des russischen Lebens zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie sie bis dahin kaum in einem Film zu sehen waren. Authentizität bekam der Film auch durch die Mitwirkung prominenter exilierter Schauspieler aus dem damaligen Russland, wie von HYPERLINK “http://www.imdb.com/name/nm1238610/” Polina Piekowskaja (Korsha-Theater, Moskau) oder HYPERLINK “http://www.imdb.com/name/nm0301471/” Vladimir Gajdarov (Künstlertheater Moskau). Für die Massenszenen wurden russische und jüdische Komparsen aus Berlin und Umgebung engagiert, oft Flüchtlinge, von denen noch keiner vor einer Kamera gestanden hatte; so brachten die meisten Mitwirkenden ihre Exilerfahrung in den Film ein.

Bei seiner Verfilmung folgt Dreyer zum Teil sehr getreu dem 1914 erschienenen dänischen Roman ELSKER HVERANDRE / DIE GEZEICHNETEN, der in Deutschland kurz nach dem Ende des 1. Weltkriegs sehr populär war und 1922 eine Auflage von 35.000 Exemplaren erlebte. Der Roman zeichnet ein naturalistisches Bild der Kräfte und Bewegungen, die in der russischen Gesellschaft am Vorabend der bürgerlichen Revolution von 1905 virulent waren, und konkretisiert diese am Schicksal von fünf jungen Menschen, die sich im Strudel der historischen Ereignisse begegnen, finden und verlieren.

Der Autor Aage Madelung (1872-1949)
Aage Madelung war dänischer Schriftsteller deutscher Abstammung. Während vieler Reisen, die ihn unter anderem nach Russland führten, verarbeitet er in Erzählungen, Novellen und Romanen seine vielfältigen Eindrücke in besonders realistischer Weise. Ungeklärt ist der Einfluss auf den Roman DIE GEZEICHNETEN durch seine Frau, die lange Zeit in Russland lebte und dort auch ein Pogrom miterleben musste. Das Buch erlangte internationales Ansehen und wurde teilweise sogar ins Jiddische übersetzt unter dem Titel Groyns Tuml (Während des Großen Umbruchs).

Werke: Der Sterlett. Novellen, 1913, Jagd auf Tiere und Menschen, 1915, Aus Ungarn und Galizien, 1916, Die Gezeichneten, 1918, Zirkus Mensch, 1918, Das unsterbliche Wild, 1924, Das Gut auf dem Mond. Eine Robinsonade, 1929

Zum geschichtlichen Hintergrund:
Juden in Russland, 18. und 19. Jahrhundert
Weltweit gesehen, war das russische Judentum in Russland die größte Diaspora-Gemeinde. Sie beeinflusste das gesamte Ostjudentum und spielte eine zentrale Rolle in der Kultur und im sozialen Leben des Judentums. Bereits im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit wurden Juden in Russland angefeindet, zur Ausreise oder zur Annahme einer neuen Religion gezwungen. Dabei war die Judenpolitik sehr wider-sprüchlich; unter der Herrschaft verschiedener Zaren kam es sowohl zur Handelserlaubnis als auch zur völligen Ausweisung aus Russland. Katharina II. erneuerte zunächst das Besuchsverbot der Juden in Russland, betrieb ab 1772 jedoch eine aufklärerisch-judenfreundliche Politik. 1791 legte sie, nachdem ihr von Moskauer Kaufleuten Benachteiligungen durch jüdischen Konkurrenten vorgetragen worden waren, genau die Gebiete fest, in denen Juden siedeln durften. Unter Alexander I. mussten die Juden auch diese Dörfer verlassen, da man die russischen Bauern vor angeblicher jüdischer Ausbeutung schützen wollte.

Von stark antisemitischen Phasen war auch das 19. Jahrhundert in Russland geprägt. Ab 1835 wurden junge Juden mit Gewalt zum Armeedienst gezwungen, was ihren religiösen Sitten widersprach und eine starke Auswanderung aus Russland oder auch Selbstverstümmelung zur Folge hatte, nur um dem Kriegs-dienst zu entgehen. Zwar gab es unter Alexander II. (Zar ab 1855) eine kurzzeitige Besserung der Lage, mit dessen Ermordung im Jahre 1881 folgte jedoch eine Welle von Pogromen. Alexander III. (Zar von 1881-1894) baute die Rechte der jüdischen Bevölkerung weiter ab, der Anteil der Juden an staatlichen Bildungseinrichtungen wurde begrenzt und ein Berufsverbot für jüdische Rechtsanwälte ausgesprochen.
Die Lage der jüdischen Intelligenz glich in vielem der Lebenssituation der russischen bürgerlichen Intelligenz; für diese Menschen, die meist im Ausland studiert hatten, gab es in den starren feudal-bürokratischen Strukturen Russlands kaum Platz. Als nach der Bauernbefreiung 1861 mehr junge Menschen die Universitäten besuchen konnten, bildete sich eine soziale Schicht, die unter den gegebenen Voraussetzungen keine Aussicht auf sinnvolle Arbeit hatte. Das Ausbildungssystem führte viele Studenten in die Radikalisierung. Bei den Bauern, im städtischen Proletariat und in der gebildeten Oberschicht entstand aufgrund schlechter sozialer Bedingungen der Wunsch nach sozialen Reformen und einer demokratischen Verfassung. Aufgrund wachsender Unzufriedenheit kam es überall im Land zu Unruhen und Aufständen. Zar Nikolaus II (Zar von 1894-1917) kündigte die Einberufung einer beratenden Versammlung an, worauf die Unruhen vorübergehend abflauten. In den folgenden Monaten entstanden in der Bildungsschicht, unter Arbeitern und Bauern revolutionäre Gruppen, auch Teile des Militärs schlossen sich dem Aufstand an. Durch das ‚Oktobermanifest’ gestand der Zar dem Volk bürgerliche Grundrechte sowie Presse-, Rede- und Versammlungsfreiheit zu. Die bürgerliche Opposition war damit im Wesentlichen zufrieden gestellt, die sozialdemokratischen und -revolutionären Gruppen, insbesondere die Bolschewiki, setzten unterdessen die Unruhen fort.
Die Revolution von 1905 verbesserte die Lage der Juden in Russland. 1906 erhielten sie ein eingeschränktes Wahlrecht, die angespannte Lage hielt jedoch bis zur Oktoberrevolution 1917 an, in deren Folge die Juden zumindest formal als gleichberechtigte Bürger Russlands galten, auch wenn der Antisemitismus auch weiterhin in Russland den Alltag der jüdischen Bevölkerung erschwerte.

Pogrome in Russland
Gewaltsame Massenausschreitungen gegen religiöse, nationale oder ethnische Minderheiten traten im zaristischen Russland in regelmäßigen Abständen auf. Zwischen 1903 und 1906 kamen bei Pogromen schätzungsweise 2.000 russische Juden ums Leben. Besonders bekannt wurden die Pogrome von Kischinew (1903), die zumindest teilweise von der russischen Regierung geschürt wurden und aufgrund derer es zu einer ersten größeren Auswanderung russischer Juden nach Palästina kam. Die dabei propagierte „jüdische Gefahr“ war vor allem „eine Ausgeburt des konservativen Bewusstseins im zaristischen Apparat und in der neoslawosphilen Intelligenz“.

Greuelmärchen über jüdische Rituale, wie die Verwendungen christlichen Blutes, entstanden bereits im Mittelalter. Unter ähnlichen Vorwänden rotteten sich 1881 zunächst in Elizavetgrad, dann auch in der Umgebung, Antisemiten zusammen. Sie zertrümmerten jüdische Geschäfte und Wohnungen, prügelten und vergewaltigten. Unter jüdischen Schriftstellern sprach man später von den „Stürmen im Süden“. Die Russen verwendeten den Begriff „Pogrom“ (dt. Verwüstung) Bereits bis 1884 wurden 259 Ausschreitungen gezählt und dabei hunderte Juden getötet. Eingesetzte Husarentruppen sollen dem Treiben oft nur zugeschaut haben.

Zur Restaurierung des Films

Der Film wurde 2006 vom Dänischen Filminstitut rekonstruiert, das seit einigen Jahren systematisch das Oeuvre von Carl Theodor Dreyer aufarbeitet und in erstklassig restaurierten (Digital)Fassungen vorstellt. Dabei ist die Überlieferung von DIE GEZEICHNETEN sehr mager, wie eine weltweite Recherche des DFI bestätigte.

Von der deutschen Uraufführungsfassung sind keine Materialien erhalten; überliefert ist lediglich die um 30 Minuten kürzere sowjetrussische Exportversion des Films, die in verschiedenen europäischen Filmarchiven dupliziert – und damit in meist ungenügender Bildqualität – vorhanden ist. Der Clou der neuen Restaurierung war zum einen die Entdeckung, dass sich in der Cinémathèque de Toulouse eine Nitro-Kopie der ersten Generation befindet (wohingegen sich das Gosfilmofond-Material in Moskau als Dup-Kopie erwies). Dieses Material aus Toulouse mit stellenweise exzellenter Bildqualität war Ausgangsmaterial der 2K-Restaurierung des DFI, betreut von Casper Tybjerg und Thomas Christensen.

Die zweite Verbesserung gegenüber den bisher kursierenden Vorführkopien des Films besteht in der grundlegenden Überarbeitung der Zwischentitelfassung. Diese folgt nun dem Wortlaut einer schwedischen Zensurliste und dem Drehbuch von Carl Theodor Dreyer, das sich in Dänemark erhalten hat. So konnte neben der Platzierung der Zwischentitel vor allem der Inhalt der Titel verbessert werden; bei den bislang gebräuchlichen Fassungen ist lediglich der Wortlaut der russischen Kopie übersetzt, die einer unverkennbar sowjetischen Lesart des Stoffs folgt. Für die Erstausstrahlung des Films auf ARTE und damit geplante Live-Aufführungen wurde die dänische Rekonstruktionsfassung ins Deutsche übertragen.

Der Regisseur Carl Theodor Dreyer (1889 – 1968)

Carl Theodor Dreyer, der zwischen 1918 und 1964 nur 14 Spielfilme gedreht hat, wird als einer der großen Meister des Kinos angesehen. – Geboren 1889 als uneheliches Kind einer schwedischen Dienstmagd in Kopenhagen, 1891 Adoption durch die streng protestantische Familie eines Schriftsetzers. Nach erfolglosen Versuchen als Cafémusiker und Buchhalter arbeitet Dreyer ab 1910 als Sportjournalist, 1912 wird er freier Mitarbeiter bei der Nordisk Film.

Der Tätigkeit als Cutter und Drehbuchautor folgt das Regiedebüt mit Præsidenten/Der Präsident (1918/19). Nach diesem Melodrama inszeniert er noch im selben Jahr mit Blade af Satans Bog/ Blätter aus Satans Buch einen weiteren Film für Nordisk. Der ökonomische Niedergang der dänischen Filmindustrie zwingt ihn, seine folgenden Projekte im europäischen Ausland zu realisieren: Prästänken/Die Pfarrerswitwe (1920) in Schweden, sowie in Deutschland Die Gezeichneten (1921) und Michael (1924); relativ unbekannt sind die beiden Filme, die zwischendurch in Dänemark entstehen, nämlich Der var engang/Es war einmal (1922), sowie Du sollst Du skal aere din hustru/Du sollst deine Frau ehren (1925). Sein bekanntester Stummfilm ist La passion de Jeanne d’Arc (1928), ein Höhepunkt in der filmischen Arbeit Dreyers.

In der Filmindustrie Europas gilt Dreyer als schwieriger und unprofitabler Regisseur. Als sein erster Tonfilm Vampyr (1931/32) nicht nur bei den Kinobesuchern, sondern auch bei der Kritik auf Desinteresse stößt, zieht sich Dreyer für zehn Jahre aus dem Filmgeschäft zurück. Erst bei Mødrehjælpen / Mütterhilfe (1942), einem Dokumentarfilm für die dänische Regierung über die Situation von Müttern, arbeitet er wieder als Regisseur. Während der deutschen Okkupation entsteht Vredens Dag / Tag der Rache (1943). Dreyers Werk über Glauben und Toleranz vor dem Hintergrund der Hexenverfolgungen verweist allzu deutlich auf die Besetzung Dänemarks durch Deutschland. Aus Angst vor Inhaftierung emigriert der Regisseur nach Schweden und dreht dort Två människor / Zwei Menschen (1945).

Nach dem Krieg arbeitet er erneut als Dokumentarfilmer für die dänische Regierung. 1952 wird er in Anerkennung seiner Verdienste zum Leiter des Dagmar Bio, Kopenhagens berühmten Filmpalastes, berufen. Erst mit Ordet / Das Wort (1955) kehrt Dreyer zum Spielfilm zurück. In seinem letzten Film, Gertrud (1964), verdichtet er die bestimmenden Motive seines Gesamtwerkes in der Geschichte einer Frau, die schließlich aus ihrer Isolation ausbricht. 1968 stirbt Dreyer, ohne sein größtes, über Jahre entworfenes Projekt, die Verfilmung des Lebens Jesu, realisiert zu haben.

Die neue Musik von Bernd Thewes

Drei thematische Komplexe durchmisst Bernd Thewes Musik in einer stetigen Pendelbewegung – entsprechend den drei Welten, die in den GEZEICHNETEN unversöhnlich aufeinander treffen: das ländliche, orthodoxe Russland mit seinem tief sitzenden Antisemitismus; die revolutionär gestimmte Jugend und drittens das aufgeklärte Bürgertum, verkörpert in Hanne-Liebes Bruder Jakow, der zum Christentum konvertiert ist und dessen Emanzipation einhergeht mit einer starken Identitätskrise. Dementsprechend pendelt die Musik zwischen Zitaten jüdischer und russischer Volksmusik auf der einen Seite und einer ‚abstrakten’ Klangwelt auf der anderen Seite, befreit von Melodie und periodischer Rhythmik; und zwischen beiden erklingt immer wieder ein Bereich der freitonalen konzertanten Musik.

Ein weiterer Aspekt wird musikalisch unterstützt: der Aspekt der Erinnerung als einem für die jüdische Kultur zentralen Topos. Die musikalische Umsetzung besteht im Einsatz einer Mehrkanal-Zuspielung, bei der das Trio (Flöte, Violoncello, Klavier) durch eine live eingesetzte Mehrkanal-Zuspielung in zwei virtuelle Klangräume vervielfältigt wird: der eine Klangraum entsteht durch eine Mikrofonierung nah an den Instrumenten, der andere Klangraum simuliert eine größere Entfernung. Dieser „Fernklang“ ist immer verbunden mit Aspekten des Erinnerns, analog zu den Zitaten jüdischer Musik, die quasi von etwas Vergangenem erzählen. Der „Nahklang“ hingegen – bei dem auch geräuschhafte Artikulationen der Instrumente zum Einsatz kommen – steht im Zusammenhang mit Aspekten der subjektiven und objektiven Verdrängung.

So gleicht sich die Musik dem Konfliktstoff an, der durch die Personen, Handlungen und Bilder fluktuiert – ja sie bildet gewissermaßen das Gefäß, um diesen Stoff gedanklich nachvollziehen zu können. Filmmusik weitet in diesem Fall den Blick und fördert eine nachdenkende Betrachtung, da gerade Dreyers Film nicht nur sinnlich goutiert werden kann. In diesem Sinne ist die Filmkomposition weniger eine „Begleitmusik zu einer Lichtbildszene“ als vielmehr eine „Begleitmusik einer Filmwahrnehmung“. Sie schärft das Bewusstsein für die im Film nachgezeichneten Konflikte zwischen der Alten und Neuen Welt, zwischen dem Aberglauben und der freiheitlich-revolutionären Gestimmtheit, die aber abstrakte Utopie bleibt, da sie die Bindungen an die Vergangenheit nicht integrieren kann.

Der Komponist über seine Musik: „Ausgehend von dem Konflikt-Dispositiv, das der Film aufzeichnet und in der Figur von Jakow verdichtet, habe ich mir darüber Gedanken gemacht, wie sich so etwas mit Musik in Zusammenhang bringen ließe. Ich wollte die Musik weder ausschließlich auf eine Funktion der passenden Klangkulisse noch auf ein paralleles Ausmalen der Handlungsdramatik hin ausrichten, also weder impressionistisch noch expressionistisch. Die klassische Lösung ist die Programmusik oder die Leitmotiv-technik, d.h. Situationen, Gefühle, Personen usw. werden musikalische Themen angeheftet. Deren Kombination lässt sozusagen eine der gesprochenen Sprache analogisierte „Klangsprache“ entstehen. Das kann nur kitschfrei funktionieren, wenn es einen allgemeinverbindlichen musikalischen Bedeutungskanon gibt, was seit 1905 nicht mehr gegeben ist – man denke nur an das Unverständnis, das der Musik Gustav Mahlers entgegenschlug. So verfiel ich auf den Gedanken, nicht von der Bedeutung einzelner musikalischer Gestalten auszugehen. Um das zu vermeiden, suchte ich Bedeutungen nicht in Gestalten zu fixieren, sondern in Relationen sich entwickeln zu lassen.“

Der Komponist Bernd Thewes (*1957)

Bernd Thewes studierte Schulmusik in Saarbrücken und Musikwissenschaften in Mainz. Sein Oeuvre umfasst Kompositionen für Solo- und Orchesterbesetzungen, radiophone Projekte, Oper, Klanginstallation und elektronische Musik. Die meisten seiner Werke werden mit führenden Solisten der Neuen Musik wie Dirk Rothbrust, Mike Svoboda, Andreas Boettger, Stefan Hussong, Irmela Roelcke oder Ueli Wiget uraufgeführt und für Rundfunk, CD-Aufnahme oder Fernsehen eingespielt. – Für ARTE realisierte er mehrere Filmmusik-Projekte, u. a. die Bearbeitung von Richard Strauss Filmmusik zum Rosenkavalier (Erstaufführung in der Semperoper Dresden 2006 mit der Staatskapelle Dresden) und die Orchestrierung von Edmund Meisels Klavierauszug zu Berlin. Die Sinfonie der Großstadt. (Jubiläumsaufführung im Friedrichstadtpalast Berlin mit dem RSB, 24.09.2007).

Die ausführenden Musiker

Dietmar Wiesner – Flöte- Der Frankfurter Musiker Dietmar Wiesner ist Mitbegründer des Ensemble Modern und einer der führenden Flötisten im Bereich der Neuen Musik, der bei epochalen Uraufführungen und Einspielungen zeitgenössischer Musikwerke mitwirkt. Parallel zu seiner Konzertätigkeit arbeitet er sehr erfolgreich als Komponist für Hörspiele, Installationen und Musiktheater-produktionen, u. a. ausgezeichnet mit dem Prix Italia (“Denotation Babel”) und dem Preis der Fachjury des Literaturbüros NRW für beste Regie.

Heather O’ Donnell – Klavier – Mit ihrem unverwechselbaren, stilistisch weit aufgeschlossenem Ansatz gehört die amerikanische Pianistin Heather O’Donnell seit einigen Jahren zu den herausragenden Erscheinungen der zeitgenössischen Musikszene. Ihr international anerkanntes Repertoire umfasst Werke des 18. bis 21. Jahrhunderts; Heather O’ Donnell lebt in Berlin.

Erik Borgir – Cello – Erik Borgir, in USA geboren, gastiert regelmäßig mit dem Ensemble Modern und dem ensemble resonanz. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Kammermusik und Neue Musik. Nach längerer Verbindung mit dem Emanon Trio und dem Ensemble Varianti, mit denen er an zahlreichen Radio- und CD-Produktionen beteiligt war, gründete er 2003 zusammen mit 6 weiteren Solisten das Ensemble ascolta, das sich mit seinen innovativen Programmen und Uraufführungen als eines der interessantesten Ensembles für Neue Musik international etabliert hat.

Teodoro Anzellotti – Akkordeon – der gebürtige Italiener Teodoro Anzellotti hat wesentlich zur Integration des Akkordeons in das klassische Musikleben beigetragen. Er gilt darüber hinaus als einer der profiliertesten Akkordeonisten der Neuen Musik; durch neue Spieltechniken hat er die Klangfarben seines Instruments erheblich erweitert. Mehr als 300 neue Werke wurden für Teodoro Anzellotti geschrieben, u.a. von Komponisten wie George Aperghis, Heinz Holliger, Toshio Hosokawa, Mauricio Kagel, Michael Jarrell, Isabel Mundry, Brice Pauset, Gerard Pesson, Wolfgang Rihm.
Inhaltsübersicht

Kapitel
Die Gezeichneten
1. Kindheit und Schulzeit
2. Schulverweis
3. Aufbruch nach St. Petersburg
4. Die jungen Revolutionäre
5. Verhaftung
6. Revolution im Land
7. Die Beerdigung
8. Die Freiheits-Proklamation
9. Flucht
10. Abspann

Credits
Musik: Bernd Thewes
Regie: Carl Theodor Dreyer

Produktionsland: D
Produktionsjahr: 1922
Pressestimmen

“Dreyer schlägt weite Bögen. Nachbarkinder, die Feinde werden. Geschwister, die sich wieder finden. Ein Liebespaar zwischen Feuer und Asche. 600 Statisten, darunter russische Flüchtlinge und Juden aus dem Berliner Ackerviertel. Das Vorbild des großen David W. Griffith ist spürbar: Stummfilm auf der Höhe der Zeit. Die Restaurierung griff auf eine Kopie mit exzellenter Bildqualität aus dem Filmarchiv Toulouse zurück – immer noch ein Meisterwerk.” Berliner Zeitung

“…bei uns verhältnismäßig unbekannt, weil die deutsche Fassung als verloren gilt und die russische Fassung stark gekürzt war. Erst eine Fassung aus dem Archiv der Cinémathèque de Toulouse hat das Dänische Filmarchiv in den Stand gesetzt, eine Rekonstruierung und Restaurierung zu bewerkstelligen. Die Musik stammt von Bernd Thewes und hat große Qualitäten.” HH Prinzler

“Gut eineinhalb Jahrzehnte nach den Dreharbeiten in der Nähe von Berlin, die ein Pogrom in Russland aus dem Jahre 1905 nachzeichneten, wütete in der deutschen Hauptstadt ein Mob gegen die jüdische Bevölkerung, an dessen Schlusspunkt der Tod von sechs Millionen Juden stand. Auch das sollte zu Denken geben im Jahre 2018, in dem in Deutschland darüber diskutiert wird, was eine “Hetzjagd” ist." Deutsche Welle

“Die Qualität der Bilder ist so gut, dass sie das künstlerische Vermögen Dreyers und seine Handschrift vermitteln kann: der Einsatz von Natur, die soziale Rahmung durch Räume, der Aufbau von Stimmungen durch keine Details.” EPD Film

“Axt im Zarenreich
Der Stummfilm “Die Gezeichneten” ist wieder vollständig
Immer wieder erstaunlich, was in den Archiven der Filmmuseen noch immer für Schätze schlummern. Man sollte glauben, langsam sei der Bestand der alten Filme bekannt, allzu viele sind es ja nicht, aber dann taucht plötzlich doch wieder ein riesiger Goldklumpen auf. Diesmal in Toulouse, eine Nitro-Kopie der Gezeichneten, eines frühen Stummfilms von Carl-Theodor Dreyer, dem dänischen Regisseur der Jeanne d’Arc, der aufgrund seines formalen Wagemuts, seiner strengen, innovativen Filmsprache von vielen Zeitgenossen verkannt wurde, aber in seinen letzten Lebensjahren noch erleben durfte, wie er zum Idole der Nouvelle Vague avancierte.
Russland 1905. Es gärt im Zarenreich, alles ist im Umbruch, überall entstehen revolutionäre Zellen, gleichzeitig ist das Leben auf dem Land noch immer von mittelalterlich anmutender Armut und das geistige Klima von abergläubischen Ressentiments geprägt. Hanne-Liebe, eine junge Jüdin, flieht vor den permanenten antisemitischen Anfeindungen in die Stadt, zu ihrem Bruder, der zum Christentum konvertiert ist. Dort trifft sie ihre Jugendliebe wieder, den idealistischen Sascha, der bei einer revolutionären Gruppe mitarbeitet.
“Streiks brachen wie ein Fieber aus”, heißt es in einem der Zwischentitel. Es sind zwei Fieberschübe, die durch diesen Film laufen und die Handlung vorantreiben, der der revolutionären Aktionen, die in rauchgeschwängerten Hinterzimmern ausgeheckt werden, und der des Judenhasses. Der sinistre Rylowitch ist an beiden beteiligt, bei konspirativen Treffen stachelt er die Revolutionäre zu terroristischen Aktionen an, um sie dann an die zaristische Geheimpolizei zu verraten. Danach hetzt er, getarnt als Wandermönch, die Bevölkerung in Hanne-Liebes Heimatort zu einem Pogrom gegen die Juden auf, der Lynchmob plündert und killt feixend und in geradezu volksfestartiger Lässigkeit, ein Russe stellt Hanne-Liebe in einer an Shining erinnernden Szene nach, indem er die Tür mit seiner Axt zerlegt.
Wie in den meisten seiner späteren Filme bearbeitet Dreyer auch schon in den Gezeichneten von 1922 einen historischen Stoff möglichst wahrheitsgetreu: Allein zwischen 1903 und 1906 waren bei Pogromen in Russland 2000 Juden umgekommen. Fast alle Hauptrollen wurden von Exilrussen gespielt, und für die Massenszenen wurden Russen und Juden rekrutiert, die meisten von ihnen Flüchtlinge.
Der Film war seinerzeit ein großer Erfolg, da aber von der deutschen Originalfassung nichts erhalten blieb, geriet er in Vergessenheit. Es gab nur eine kryptische Kurzfassung mit unvollständigen, teilweise propagandistisch veränderten russischen Titeln. Die neue Fassung ist bedeutend länger, hat exzellente Bildqualität und folgt dem Wortlaut des Dreyerschen Drehbuchs. Fast das Beeindruckendste an dieser Neufassung ist aber die Musik, die Bernd Thewes dafür komponiert hat. Weder ist sie, wie so oft in Stummfilmen, blass vor sich hinkringelnde Klangtapete noch Wagnerianischer Gefühlserklärungskitsch. Vielmehr macht Thewes parallel zum Film die Spannungen der drei Welten hörbar, der konservativen, bäuerlichen Provinz, der revolutionären Jugend und dem aufgeklärt-modernen, innerlich zerrissenen Bürgertum, indem er russisch-jüdische Volksmusik, abstrakte Klänge und freitonale konzertante Musik immer neu ineinanderwachsen lässt." Süddeutsche Zeitung, ALEX RÜHLE

„Der in den neuen Primus-Palast-Lichtspielen mit großem Erfolg bereits in der dritten Woche laufende Film findet jetzt auch in der Alhambra ein interessiertes Publikum. Ein Tendenzfilm? Vielleicht. Jedenfalls einer von den wenigen ganz starken mit ausgeprägter Eigenart, die den Zuschauer in ihren Bann zwingen und einen Eindruck hinterlassen. (…) Es ist weniger das Schicksal des einzelnen, das hier interessiert. Es ist das Schicksal aller, es ist der Leidensweg eines ganzen Volkes.“ (Der Kinematograph, 19.03.1922)

“(…) Ein Drama aus der Zeit, der russischen Revolution entrollt sich hier vor unseren Augen. Insbesondere werden die Leiden und Drangsale der jüdischen Bevölkerung, der „Gezeichneten“,
unter dem russischen Volke, in ziemlich realistischer Weise geschildert. Hanne-Liebe, ein jüdisches
Mädchen, das schon als Kind auf der Schule wegen seines Glaubens gemieden und verachtet wird, ihre Familie, sowie ihr Jugendfreund Sascha, ein junger freiheitsbegeisterter Student, stehen im Mittelpunkt einer Handlung, die sich zwar über zu sehr ausgedehnte Akte erstreckt, im einzelnen aber packende und spannende Momente enthüllt und manche Ereignisse lebenswahr erstehen läßt. Die Regie des Carl Th. Dreyer schuf, abgesehen von kleinen Mängeln bei der Darstellung von Massenszenen, Bilder von plastischer Wirkung, die durch das flotte und fast durchweg markante Spiel der Darsteller noch erhöht wurde. Entsprechend dem russischen Milieu der Handlung sind die auftretenden Personen fast sämtlich russische und skandinavische Künstler, die ihrer Aufgabe in lebenswahrer Weise gerecht werden. Die Photographie, für die Friedrich Weinmann verantwortlich zeichnet, ist meist gut gelungen, während der Architekt Jens G. Lind, Kopenhagen, echt anmutende Bauten geschaffen hat. Der Film als Ganzes, über dem Niveau eines Publikumsfilms stehend, dürfte in manchen Bezirken seinen Anklang finden.”(…) Der Lichtbildtheater-Besitzer (Berlin), Nr. 6, 25.2.1922.

“(…) Das Problem dieses Films ist ein uraltes, doch ewig neues: der Kampf zweier Rassen, hier der jüdischen und der russischen. Vielleicht ist es auch richtiger, angesichts der unproportionierten
Kräfteverhältnisse, von dem Schicksal der einen und der anderen zu sprechen. Bei diesem durch
Fanatismus mancherlei Art scharf gemachten Daseins- und Vernichtungskampf entfalten sich
alle niedrigen sowohl wie alle höheren Triebe der Menschen, die letzten Vorhänge vor den Urinstinkten, den grauenhaften und erhabenen, werden aufgegriffen. An Einzelschicksalen erweist sich auch die für ein ganzes Volk grundlegende Wahrheit: Es ist not, sich selber treu zu bleiben, seinem Glauben, seinem Wesen, seinem Sinn. Untreue führt zum Untergang, Treue triumphiert zuletzt über eine Welt von Teufeln und Viehnaturen. Dies offenbart sich deutlich an dem Schicksal der beiden Personen, die im Mittelpunkt der Handlung stehen. Der Advokat Segal, der dem Glauben seiner Väter untreu geworden, findet seinen Tod, Hanne-Liebe, seine Schwester, die seelisch Ergriffene, die tapfer Kämpfende, wird aus den Schrecken des Pogroms gerettet, durch ihren Geliebten. Die zarte Geschichte dieser beiden Liebenden, gestickt auf den gewaltigen, dräuenden Hintergrund eines trüben Volksschicksals, bildet denn auch von Nebenhandlungen und Episoden abgesehen, die Fabel des Stückes. Das war genug, um
einer gewandten und einfallsreichen Regie Gelegenheit zur Entfaltung fesselnder und ergreifender Bilder zu geben. Mit großer Liebe und Sorgfalt sind die einzelnen Szenen durchkomponiert,auf ihre photographische und seelische Wirkung berechnet. Vor allen Dingen macht Milieu und Ausstattung den Eindruck des Echten. Von verträumten Landschaftsbildern und Liebesszenen werden wir in geheime Versammlungen der Revolutionäre und schließlich, als dramatischen Höhepunkt, der aufwühlenden Blutrunst eines Pogroms zugeführt. Fast zu reichlich ist die Szenenfolge, und hier müssen wir – wir dürfen es angesichts des großen Aktivkontos dieses Films – betonen, daß uns stellenweise etwas zu viel Titel vorhanden schienen, die einzelnen Szenen zuweilen zu kurz waren und die Bilder zu schnell abgeblendet wurden. Gerade die Schönheit der meisten Szenen rief den Wunsch wach, sie genügend lang, auch bis zur Aufnahme der Einzelheiten im Auge zu halten.
Das Spiel der Darsteller war fein abgestimmt, dezent, ohne Überbetonung, und vergriff sich
kaum je in einer Nuance. Hervorragen als Träger der Hauptrollen die Darsteller des Rechtsanwalts Segal (Wladimir Gaidarow, Stanislawskys Künstler-Theater, Moskau), der Hanne-Liebe (Gräfin Piechowska, Korsha-Theater, Moskau), des Studenten Sascha (Thorleiff Reiss, National-Theater,Kristiania), des Fedja (Richard Boleslawsky, Stanislawksys Künstler-Theater, Moskau). Eigentlich müßten wir alle nennen, denn alle brachten in hingebendem Spiel ihren Part zu lebenswirklicher Darstellung.” Film-Kurier (Berlin), Nr. 44, 24.2.1922.

DVD
lieferbar
€ 14,90


Best. Nr.: 3015
ISBN: 978-3-8488-3015-2
EAN: 978-3-8488-3015-2
FSK: Infoprogramm

Länge: 95
Bild: PAL, viragiert, 4:3
Ton: Dolby Stereo
Sprache: Deutsch
Regionalcode: codefree

Label: ARTE Edition
Edition: Arte Edition
Reihe: Stummfilm
Rubrik: Spielfilm
Genre: Historienfilm


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